Bibel lesen und lernen: Ein Plädoyer für mehr Narrativität im Religionsunterricht der Sekundarstufe

Horst Heller (CC BY-SA 4.0)
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Sola scriptura. Dieser Grundsatz der Reformation legt fest, dass die Maßstäbe für die kirchliche Theologie ausschließlich in der Heiligen Schrift zu suchen sind, nicht in der Tradition der Kirche. Dafür bedarf es aber mehr als einer ungefähren Erinnerung an die Bibelerzählungen. Dieser Beitrag plädiert dafür, dass sich auch der Religionsunterricht der Sekundarstufe mehr den großen Erzähleinheiten der Bibel zuwendet.

Der Religionsunterricht der Grundschule erzählt von Abraham und Sara, von Rut und Noomi, von Mose und seiner Berufung am Dornbusch. Lehrende und Lernende spüren, wie diese Geschichten zu leben beginnen, wenn sie erzählt werden. Sie regen die Fantasie an, lassen Bilder im Kopf entstehen, fordern heraus und schlagen Antworten des Glaubens auf die großen Fragen des Lebens vor. Bibelerzählungen sind eine didaktische Chance.

Der Religionsunterricht der Sekundarstufe wählt in der Regel einen anderen Weg. Er erörtert die Gottesfrage, wägt christologische Modelle ab, reflektiert ethische Grundfragen, bedenkt das Verhältnis von Kirche und Staat und die Herausforderungen der religiösen Vielfalt. Er tut das in der Regel mit Hilfe von Sachtexten. Von einzelnen Perikopen abgesehen kommen erzählende Bibeltexte kaum vor.

Schade! Denn dabei gerät in Vergessenheit, dass wir es bei den Büchern der Bibel mit Literatur zu tun haben, die von unbekannten, aber großartigen Schriftstellern verfasst worden ist. Die Autoren haben Themen, Bilder und Worte sorgsam gewählt. Der Deutsch- und Fremdsprachenunterricht wendet viel Energie auf, um Prosa und Lyrik aus Vergangenheit und Gegenwart zu lesen und mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Gleiches könnte auch der Religionsunterricht tun. Seine einzigartige Primär-Textsammlung, die Bibel, könnte er ausführlich lesen und deren Fragestellungen, Sprache und Aussageabsicht untersuchen und sie auf ihre Relevanz für die eigene Existenz befragen. So könnte er einen Beitrag zur theologischen Sprachkompetenz der Schülerinnen und Schüler leisten. Dem Religionsunterricht der Sekundarstufe bietet sich die Chance auf eine Begegnung mit Weltliteratur, aber er nutzt sie nur wenig.

Reflexionen des christlichen Glaubens, wie sie Schulbücher und Textsammlungen in großer Auswahl anbieten, haben natürlich eine wichtige Funktion. Sie wollen erklären, einordnen und Antworten geben. Dazu wählen sie eine systematisch-theologische Sprache. Die Arbeitsaufgaben für Schülerinnen und Schüler machen deutlich, dass ein Zweischritt erforderlich ist, um ihnen eine existentielle Dimension abzuringen. Zunächst muss die Position des Autors präzise erfasst werden („Stellen Sie die Position des Verfassers in Thesen dar!“), um sich anschließend mit ihr auseinanderzusetzen („Nehmen Sie begründet Stellung …!“). Dokumente wie Luthers Kleiner Katechismus oder die Barmer Theologische Erklärung sind dienlich, um mit ihrer Hilfe historische Fragen zu verstehen und Entscheidungen der Vergangenheit bewerten zu können. Mit Recht werden sie deshalb „in gebührender Achtung“ gehalten. Antworten auf Fragen der Schülerinnen und Schüler geben sie aber nur mittelbar.

Warum Narrativität?
Die Priester, Evangelisten und anderen Autoren der Bibel stehen selbst in einer langen Erzähltradition. Sie geben weiter, was sie erfahren haben, nicht ohne dem „Stoff“ dabei eine neue Gestalt und Deutung zu geben. Ein Religionsunterricht, der diese Tradition fortsetzt, will Schülerinnen und Schüler selbst zu erzählenden Menschen bilden, die biblische Erzählkränze nacherzählen und ihnen dabei gleichfalls eine eigene Note geben können. Das Ziel ist erreicht, wenn ihre Geschichten drei Kriterien erfüllen: Sie sind in sich schlüssig und für Hörerinnen und Hörer des angedachten Alters verständlich. Sie achten den Ausgangstext, also die biblische Vorlage, und verändern sie nur da, wo es unverzichtbar ist. Und sie enthalten eine authentische Aussage: Hörende können erschließen, welche Erkenntnisse die Erzählerin oder der Erzähler gewonnen hat und welche Einsichten ihre oder seine Nacherzählung vermitteln will.

Narrativität im Religionsunterricht ändert die Themenwahl, die Didaktik und die Methodik des Unterrichts und macht ihn existentieller. Es werden – wie bisher – Texte gelesen. Aber die erzählenden Primärtexte der Bibel haben nun einen höheren Stellenwert. Dabei wird bedacht, dass die Bibel mehr ist als eine Sammlung von Perikopen und in größeren Zusammenhängen erzählt und gehört werden will.

Welche biblischen Erzählungen kommen in Frage?
Die Auswahl ist groß. Der Autor dieser Zeilen denkt weniger an ein neutestamentliches Evangelium, obwohl auch die Evangelien als ganze Bücher gelesen werden wollen. Großes didaktisches Potential bieten die Erzähltexte des Alten Testaments. Die Geschichte von Mose ist unübertroffen wertvoll, wenn es darum geht, sich mit dem nahen und fürsorglichen, zugleich aber auch fernen und unverfügbaren Gott zu beschäftigen. Die Jona-Erzählung gibt eine Antwort auf die Frage, ob Gott will, dass die Menschen von Ninive an ihn glauben. Die Erzählung von Rut und Noomi verbindet eine Frauengeschichte von Solidarität und Klugheit mit dem Hinweis, dass sich im Stammbaum des großen Königs David eine Ausländerin findet. Große didaktische Chancen bieten auch die Abraham-, Jakob– und David-Erzählsequenzen.

Vier mögliche Einwände gegen die Beschäftigung mit größeren Erzähleinheiten im Religionsunterricht der Sekundarstufe

Frage: Ist die unterrichtliche Behandlung biblischer Erzählungen mit dem aufbauenden Lernen vereinbar? Viele der Geschichten sind doch aus dem Religionsunterricht der Grundschule bereits bekannt!
Antwort: Selbst wenn der Religionsunterricht der Grundschule gute Grundlagen gelegt hat, muss in der Sekundarstufe das Vorwissen immer neu aktiviert werden. Im Sinne des kumulativen Kompetenzaufbaus ist so nachhaltiges Lernen möglich. Abiturientinnen und Abiturienten sollten in der Lage sein, die wichtigsten Episoden aus der Erzählung von Jakob und Esau präzise und pointiert zu erzählen, die Haltungen zu benennen und einzuordnen, die der Erzähler in dieser Geschichte einnimmt.

Frage: Können Schülerinnen und Schüler über biblische Erzählungen geprüft werden?
Antwort: Ja. So wie im Deutschunterricht die Beschäftigung mit einer Lektüre bewertet werden kann, ist das auch im Religionsunterricht möglich.

Frage: Bedenkt der Vorschlag einer narrativen Didaktik ausreichend die Grundsätze der historischen Kritik?
Antwort: Ja, ein narrativer Religionsunterricht fragt danach, in welchem Kontext die Geschichte erzählt worden ist. Er analysiert Stilmittel, Erzählperspektive und Handlung. Er arbeitet die Fragen, auf die das Erzählte antwortet, und die Erzählabsicht des Textes heraus. Dabei verzichtet er nicht auf kritische Rückfragen. Er ermöglicht eine Distanzierung gegenüber der Aussage des Erzählers. Das historische Interesse (Was ist wirklich geschehen?) tritt allerdings hinter das Deutungsinteresse (Wie stehe ich zu der Botschaft, die die Erzählung vermittelt?) zurück. Die Attitüde der Überlegenheit, mit der Mythisches oder Wunderhaftes vorschnell getilgt wird, ist ihm fremd. Dafür stoßen Schülerinnen und Schüler bei ihrer Suche nach dem Christlichen unvermittelter auf Antwortvorschläge.

Frage: Ist es mit dem Bildungsanspruch eines Gymnasiums vereinbar, biblische Geschichten zu hören, zu deuten und selbst zu erzählen?
Antwort: Dieser Beitrag hat auch Schülerinnen und Schüler im Blick, die nicht das Gymnasium besuchen. Aber biblische Erzählsequenzen sind ein wertvolles Angebot religiöser Bildung für jede Schulart und Schulstufe. Die Väter- und Müttergeschichten und Prophetenbücher des Alten Testaments und die erzählenden Texte des Neuen Testaments sind keine Kinderbücher. Ihre ersten Rezipienten waren erwachsen. Die großen Themen, die sie bedenken, sind existentielle Fragen für Menschen jeden Alters.

Literatur
Sönke Finnern, Schritt der Erzählanalyse für die Bibeldidaktik. Literaturwissenschaftliche Methoden in der Exegese, in: Entwurf, Konzepte, Ideen und Materialien für den Religionsunterricht, 3/2017, S. 4 ff.
Hartmut Rupp, Vom biblischen Text zur Erzählung. Eine Didaktik anhand der markinischen Erzählung von Bartimäus, in: Entwurf, Konzepte, Ideen und Materialien für den Religionsunterricht, 3/2017, S. 8 ff.
Odile Néri-Kaiser, Mündliches Erzählen. Eine Tradition, eine Kunst, eine soziale Kompetenz, in: Entwurf, Konzepte, Ideen und Materialien für den Religionsunterricht, 3/2017, S. 12 ff.
Sabine Benz/Karolin Frank-Vormweg, Gott und Abraham – Ein Segensband verbindet. Ein narratives Unterrichtsprojekt für Schülerinnen und Schüler des Kursstufe und Klasse 2, in: Entwurf, Konzepte, Ideen und Materialien für den Religionsunterricht, 3/2017, S. 16 ff.

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