Wibrandis Rosenblatt – oder der lange übersehene Anteil von Frauen an der Reformation. Eine biografische Skizze und sechs Überlegungen

Wibrandis Rosenblatt

Text: CC BY-SA 3.0 Horst Heller
PDF-Version dieses Beitrags zum Download

Wibrandis Rosenblatt wurde 1504 in Säckingen am Hochrhein geboren. Ihre Mutter stammte aus Basel. Dorthin kehrte sie noch zu Lebzeiten ihres Mannes zurück, da ihr Mann Hans Rosenblatt als Offizier in Habsburger Diensten fast durchweg von der Familie getrennt lebte. Er starb 1530.

Sechs Jahre vor seinem Tod hatte Wibrandis den Basler Humanisten Ludwig Cellarius geheiratet. Doch der Magister verstarb bereits nach zwei Ehejahren, und die junge Witwe kehrte mit ihrer 1525 geborenen Tochter, die wie sie Wibrandis hieß, in das Haus ihrer Mutter zurück.

In der Heimatstadt der Familie lebte auch der Theologe Johannes Oekolampad. Er war Priester und lehrte an der Universität. Die Schriften Martin Luthers wurden auch hier gelesen. Als die Mutter Oekolampads, die ihm den Haushalt geführt hatte, verstarb, dachte der 46-jährige über eine Eheschließung nach, wie es Martin Luther in Wittenberg drei Jahre zuvor auch getan hatte. Am 15. März 1528 heiratete er die 24-jährige Wibrandis.

Wibrandis‘ Ehe mit einem an die zölibatäre Lebensweise gebundenen Priester war in einer Zeit, in der die Reformation noch nicht eingeführt war, ein Bekenntnis zum neuen Glauben.

Mit ihrer mutigen Entscheidung für den prominenten Geistlichen stand Wibrandis nun von einem Tag auf den anderen in der Öffentlichkeit. Die Ehe mit einem Priester war ein öffentliches Bekenntnis zum evangelischen Glauben. Dass die Hochzeit zudem in der Fastenzeit stattfand, war ein kirchenpolitisch provokativer Akt. Eine neue Kirchenordnung kündigte sich an und wurde hier vorweggenommen. Der Altersunterschied zwischen beiden betrug über 20 Jahre und rief prominente Spötter auf den Plan, was die junge Ehefrau sicher tapfer ertrug.

Das Ehepaar bekam drei Kinder: Eusebius, Irene, die früh verstarb, und Aletheia. Wibrandis oblag neben der Kindererziehung auch die Betreuung der zahlreichen Gäste des Hauses. Große Reformatoren ihrer Zeit waren in Basel zu Gast und machten Besuche im Hause Oekolampad. Auch Flüchtlinge, vor allem Glaubensflüchtlinge, waren zu versorgen. Brieflich verkehrte Wibrandis mit den Ehefrauen anderer Reformatoren Agnes Capito, Elisabeth Bucer und Anna Zwingli. Für Oekolampad hatte die Eheschließung mit Wibrandis übrigens eine ganz praktische Folge, die ihm das Leben in Basel sehr erleichterte. 1530 wurde ihm das Bürgerrecht zugesprochen, das er als Nicht-Schweizer bis dato nicht besessen hatte.

Doch Oekolampad verstarb überraschend 1531 und Wibrandis stand mit ihren Kindern erneut vor dem Nichts. Der Straßburger Reformator Wolfgang Capito, der seit 1524 mit Agnes Röttel verheiratet gewesen war, war zur gleichen Zeit Witwer geworden. Sein Freund Martin Bucer riet ihm zu einer schnellen Wiederverheiratung. Die Wahl fiel auf Wibrandis. Die zog 1532 mit ihren Kindern von Basel nach Straßburg. Am 11. April heiratete die 28-jährige zweifache Witwe den 54 Jahre alten Theologen, der bereits sechs Kinder hatte. In den Jahren 1533 bis 1541 wurden ihnen weitere fünf gemeinsame Kinder geboren: Agnes, Dorothea, Johann Simon, Wolfgang und Irene. Im Straßburger Haushalt lebte auch Magdalena Strub, Wibrandis‘ verwitwete Mutter. Die Aufgaben der Pfarrfrau waren ähnlich wie die in Basel: Die Fürsorge für Arme und Kranke in der Gemeinde, die Bewirtung der zahlreichen Gäste, die Unterweisung der Kinder und das Management des großen Haushalts. Immer wieder war Wibrandis auch Gastgeberin für verfolgte Protestanten, die in Straßburg Zuflucht suchten. Dazu kam, dass Capito verschuldet war. Wibrandis oblag es, seine Finanzen wieder in Ordnung zu bringen.

Bei aller Hochschätzung ihrer Ehefrauen haben die einflussreichen Reformatoren die Aufwertung der Rolle der Frau kaum vorangebracht. Keiner von ihnen entdeckte die Idee der Geschlechtergerechtigkeit.

1541 war ein Schicksalsjahr für die große Familie. In Straßburg brach die Pest aus. In kurzer Zeit starben über 3000 Bürgerinnen und Bürger der Stadt. Unter den Opfern war auch Wolfgang Capito und die Kinder Eusebius, Dorothea und Wolfgang. Eusebius wurde zwölf, Dorothea sechs und Wolfgang nur drei Jahre alt. Nicht nur die Familie Capito geriet in Not. Auch der gemeinsame Freund Martin Bucer verlor seine Frau durch die Pest. Elisabeth Silbereisen, seine Frau, hatte lange im Kloster gelebt und dann ihrem Mann, den sie in Landstuhl geheiratet hatte, dreizehn Kinder geschenkt, von denen 1541 nur noch fünf am Leben waren. Nur eines ihrer Kinder erreichte das Erwachsenenalter. Es war der geistig behinderte Nathanael.

Wie Capito wirkte Bucer als reformatorischer Theologe in Strasbourg. Seine Frau hatte noch auf dem Sterbebett ihrem Ehemann und ihrer Freundin Wibrandis das Versprechen abgenommen, einander nach ihrem Tod zu heiraten. Es wurde die vierte Ehe der vielfachen Mutter, die dritte mit einem bedeutenden Reformator. Die Hochzeit fand bereits am 16. April 1542 statt. Die kurze Trauerzeit war wegen der wirtschaftlichen Bedeutung der neuen Ehe nicht anstößig.

Im neuen Haushalt lebten nun neben den unverheirateten Kindern der Eheleute – Wibrandis Tochter aus erster Ehe hatte 1541, im Jahr der Pest, geheiratet – und Wilbrandis‘ Mutter sowie zeitweise auch Bucers Vater und mit seiner zweiten Ehefrau. Auch Margarete Rosenblatt, die Tochter ihres verstorbenen Bruders, hatte Wibrandis aufgenommen. Dennoch gebar Wibrandis noch weitere zwei Kinder: Martin, der im Alter von drei Jahren starb, und Elisabeth.

Wibrandis schrieb keine Bücher, predigte nicht, führte keine Verhandlungen, unterzeichnete keine staatspolitsch bedeutsamen Dokumente. Und dennoch hat sie große Verdienste um die Reformation.

1548 musste Bucer Straßburg verlassen. Er wurde zum „Bauernopfer“ der Evangelischen für den Friedensschluss nach dem verlorenen Schmalkaldischen Krieg. Auf Einladung des Erzbischofs von Canterbury ging er nach Cambridge, zunächst ohne seine Familie. Doch dort fühlte er sich allein nicht wohl, sodass Wilbrandis auch ihren Haushalt in Straßburg auflöste, um mit ihm zu leben. Sie reiste nach England. 1550 regelte sie in Straßburg noch einmal gerichtliche Streitfragen. Im August des gleichen Jahres konnte sie endgültig nach Cambridge übersiedeln. Ihre jüngste Tochter Elisabeth, ihre Nichte Margarete und ihre betagte Mutter begleiteten sie. Doch bald nach ihrer Ankunft erkrankte Bucer schwer und starb. Wibrandis kehrte nach Straßburg zurück und wohnte zunächst im Haus ihrer Tochter Aletheia und deren Mann, dem Pfarrer Christoph Söll. Doch auch Aletheia wurde bald Witwe. So entschloss sich Wibrandis, mit ihren Töchtern Agnes, Irene und Elisabeth und ihrer Nichte Margarete den Lebensabend in ihrer Heimatstadt Basel zu verbringen. Es sollte ihr letzter Umzug werden. Aletheia blieb in Straßburg und heiratete dort ein zweites Mal. Johann Simon begann ein Theologiestudium. Ob er es abschloss, ist nicht bekannt.

In Basel lebte die Witwe zurückgezogen, aber angesehen noch neun Jahre. Als 1564 die Pest auch nach Basel kam, forderte sie 7000 Opfer in der Stadt, unter ihnen auch die 60-jährige Wibrandis. Sie wurde im Kreuzgang des Münsters neben ihrem zweiten Ehemann Johannes Oekolampad bestattet. Eine Denkinschrift allerdings wurde nicht angebracht.

Grabmahl von Johannes Oekolampad im Kreuzgang des Baseler Münsters. Seine Verdienste werden ausführlich beschrieben, die seiner Frau bleiben unerwähnt.

Wibrandis schrieb keine Bücher, predigte nicht, führte keine Verhandlungen, unterzeichnete keine staatspolitsch bedeutsamen Dokumente. Wo also liegt ihre Bedeutung? Sie war mit drei Reformatoren verheiratet? Ist das ihr einziger Verdienst? Sechs Überlegungen:

  • Am Lebenslauf der Wibrandis ist zunächst zu erkennen, welche gewaltige Last Menschen in der Zeit des reformatorischen Umbruchs zu tragen hatten. Konfessionellen Streitigkeiten konnten sie sich nicht entziehen. Schwere Krankheiten und Pest drohten ununterbrochen. Die Trauer über den Tod eigener Kinder, die Versorgung der Eltern, Umzüge und vieles mehr belasteten Frauen und Männer gleichermaßen.
  • Für Frauen in der Zeit Wibrandis‘ kam hinzu, dass sie, einmal verheiratet, vielfache Mutter werden konnten. Die gesundheitlichen Risiken, die Belastung durch Kindererziehung und die Sorge für den Ehemann und die Großeltern lasteten auf ihnen allein. Starb ihr Ehemann, waren sie in der Regel mittellos. Dies allein ist es wert, dass über Frauen der Refomationszeit mit hoher Achtung und mit Respekt berichtet wird.
  • Wibrandis hatte wie die Frauen ihrer Zeit keinen Zugang zu Universitäten. Sie war aber offenbar gebildet, nahm an Diskussionen und Tischgesprächen in ihrem Haushalt teil. Sie kommunizierte mit den Reformatoren, die zu Gast waren, und hatte Briefkontakt mit deren Ehefrauen. Sie prägte zusammen mit ihren Männern das Rollenmodell der protestantischen Pfarrerfamilie, das über Jahrhunderte stilbildend war und erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts auf Änderungen noch unklarer Reichweite zugeht. Sie war ihren Männern eine Gesprächspartnerin und leistete zugleich diakonische, pädagogische und soziale Dienste. Sie war – biblisch gesprochen – Maria und Marta in einer Person.
  • Ihre Ehe mit Johannes Oekolampad war eine eminent theologische und kirchenpolitisch bedeutsame Entscheidung und zugleich eine mutige Demonstration. Sie zeigte öffentlich, dass evangelische Pfarrer verheiratet sein dürfen und dass die Grenze zwischen Klerus und Laien überwunden war. In dieser Frage steht Wibrandis auf einer Ebene mit Katharina von Bora. Die neue Pfarrfamilie änderte soziologisch und theologisch die Rolle des Priesters. Die Folge war ein neues Leitbild für Kirchengemeinden und die Aufwertung des diakonischen Handelns als Wesensmerkmal christlicher Gemeinden.
  • Wibrandis hat den reformatorischen Umbruch mitgestaltet. Die Geschichtsschreibung hat das Verdienst adliger Frauen schon länger erkannt. Die Leistung bürgerlicher Frauen wurde hingegen lang übersehen.
  • Gendersensible Reformationsforschung fragt aber zugleich, ob nicht mehr zu erreichen gewesen wäre. Bei aller Hochschätzung ihrer Ehefrauen haben die einflussreichen Reformatoren doch die Aufwertung der Rolle der Frau kaum vorangebracht. Keiner von ihnen entdeckte in der Bibel die – vielleicht damals noch revolutionäre – Idee der Geschlechtergerechtigkeit. Wibrandis und andere Frauen hätten dafür Argumente geliefert. Auch der Reformator in Wittenberg, der die Frauen zwar achtete, ihnen Würde und in der Ehe eine hervorgehobene Stellung zusprach, konnte sich nicht dazu entschließen, durchgreifende Änderungen zugunsten der Frau theologisch zu begründen und kirchenpolitisch einzufordern.

Literatur und Links:
Hanna Strack, Wibrandis Rosenblatt (1504-1564) https://www.hanna-strack.de/wibrandis-rosenblatt-1504-1564/
Irina Bossart, Frauen und Reformation http://frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=45
Sonja Domröse, Wibrandis Rosenblatt https://zeitzeichen.net/archiv/2014_September_wibrandis-rosenblatt
Dieter Sell, Mutige Frauen: https://www.luther2017.de/de/neuigkeiten/mutige-frauen-mit-der-reformation-geriet-die-maennliche-vorherrschaft-ins-wanken/index.html
Lisbeth Haase, Luthers engagierte Freundinnen: Books on demand, 2017
https://www.wibrandis.ch/

Blogbeiträge zum Thema auf www. horstheller.de
15.07.2019: Wer war Johannes Eck? Eine Erinnerung
25.10.2019: Wibrandis Rosenblatt, oder der lange übersehene Anteil der Frauen an der Reformation
16.02.2020: Alles Luther oder was? Fünf Gründe, den Wittenberger Reformator nicht zu verehren, fünf Gründe es doch zu tun.
05.04.2020: Dietrich Bonhoeffer: Warum wir ihn nicht der neuen Rechten überlassen dürfen
31.01.2021: „Heilige Anna, hilf mir! Ich will ein Mönch werden.“ Tom und Ronni wollen alles über Martin Luther herausfinden (1/4)
04.04.2021: Vater und Sohn. Wie Erich Ohser der Diktatur listig die Stirn bot und den Kampf dennoch tragisch verlor
08.08.2021: Zweimal 44 Jahre. Wie eine antike Palastaula von Kunstwerken des 19. Jahrhunderts befreit wurde und vier Marmorköpfe der Evangelisten dabei fast zerstört worden wären.
15.08.2021: „Nicht nur ethische Themen, bitte!“ Vier Megatrends und zwölf Zukunftsaufgaben des nachpandemischen Religionsunterrichts
19.09.2021: Als Felix Manz im kalten Wasser der Limmat ertränkt wurde. Eine Erinnerung an ein unrühmliches Kapitel der Reformation
24,10.2021: Bibel lesen und lernen. Ein Plädoyer für mehr Narrativität im Religionsunterricht der Sekundarstufe
09.01.2022: Das große Gähnen. Ist Religionsunterricht etwas, aus dem man herauswächst wie aus Kinderkleidern? Ein Dialog zweier Betroffener
23.01.2022: „Wir wissen, dass der Mensch im Grunde gut ist.“ Wie Desmond Tutu die christliche Anthropologie vom Kopf auf die Füße stellte.
24.04.2022: Himmel, Hölle und Humor. Wie Desmond Tutu erst Späße über das Jüngste Gericht macht und dann die Gretchenfrage stellt.