„Nicht nur ethische Themen, bitte!“ Vier Megatrends und zwölf Zukunftsaufgaben des nachpandemischen Religionsunterrichts

Horst Heller (Text und Bilder: CC BY-SA 3.0)
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„Nur ethische Themen!“ Diese Beschränkung wurde vielen Religionslehrerinnen und -lehrern in der Zeit der Pandemie auferlegt. Lebenskunde, die die Gottesfrage ausklammerte, schien die Antwort auf die Herausforderung der Pandemie zu sein. Der Religionsunterricht muss dieses Verdikt nun hinter sich lassen, will er seinen Markenkern nicht verlieren. Und doch wird sich manches ändern. Denn vier Megatrends fordern ihn heraus. Was bedeuten sie für die Religionsdidaktik der nächsten Jahre? Einige religionspädagogische Überlegungen:

Erster Megatrend: Säkularisierung

Lerngruppen im Religionsunterricht werden öfter zusammengelegt. Der Stellenwert der Religion in unserer Gesellschaft hat abgenommen und nimmt weiter ab. Die Gesellschaft wird multikultureller. Weltweit mögen Religionen boomen, in Deutschland ist das nicht der Fall. Der Bedeutungsverlust der Kirche, des christlichen Glaubens und der Religion überhaupt hat sich beschleunigt. Fünf Aufgaben angesichts dieses Megatrends für den Religionsunterricht:

Erste Aufgabe: Der Religionsunterricht geht auf die Suche nach dem Christlichen.
Was „das Christliche“ ist, ist keineswegs mehr allen klar. Lehrende und Lernende sind immer weniger auskunftsfähig. Der Religionsunterricht lädt deshalb zur einer ergebnisoffenen religiösen Entdeckungsreise in einem säkularen Umfeld ein. Sein Weltbild ist „nach oben offen“. Dass Gott geheimnisvoll in der Welt präsent ist, hält er für möglich. Finden wir Spuren des Göttlichen in der Welt der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen?
Diese Spurensuche geschieht in konfessioneller Zusammenarbeit und gemeinsame mit religionskritischen und konfessionslosen Schülerinnen und Schülern, die sich daran beteiligen wollen. Dialogbereitschaft und Dialogfähigkeit in heterogenen Lerngruppen sind Lernchancen.

Zweite Aufgabe: Der Religionsunterricht nimmt Abschied vom trägen Wissen.
Sachkunde ohne Querverbindung zum gelebten Leben wird als träges Wissen bezeichnet. Religiöses Sachwissen über die Christenverfolgung der Antike, die Theologie des Paulus oder das Leben Albert Schweitzers sind didaktisch nur relevant, wenn sie einen Lebensweltbezug haben. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat in ihrer Denkschrift Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit angemahnt, der Religionsunterricht müsse „die seit den 1960er Jahren angemahnte Orientierung seiner Themen und Lernarrangements an Relevanz einmal mehr durchbuchstabieren: Es gilt nach wie vor so deutlich wie möglich werden zu lassen, was Interpretamente, Praxen und Traditionen für die Lebensführung und -deutung von Menschen bedeuten (können). Die Stunde des „trägen Wissens“ ist angesichts der religionspluralen Herausforderungen vollends vorbei.“
aus: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit, Aufgaben und Chancen. Ein Grundlagentext der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend. Leipzig, 2020, S. 125).

Dritte Aufgabe: Der Religionsunterricht ermöglicht eine Begegnung mit Religion.
Über christliche Praxis des Glaubens nachzudenken und sich über sie auszutauschen, ist nur möglich, wenn man sie auch erlebt. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler kennt religiöse Rituale, christliche Spiritualität und reflektierte Glaubenspraxis aber höchstens aus den Medien. Dem Religionsunterricht kommt deshalb die Aufgabe zu, Religion auch zu zeigen und Räume zu schaffen, sie experimentell zu erproben (Performanz).

Vierte Aufgabe: Die Religionspädagogik sucht eine neue Sprache und entdeckt dazu die Bibel neu.
Religiöse Sprache muss sich verändern, will sie auch von religiös Unmusikalischen verstanden werden. Auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen des Glaubens darf der Religionsunterricht vorangehen. Er spürt, dass die Worte Sünde, Nachfolge, Heiliger Geist und viele andere zentrale theologische Begriffe im Weltbild säkularer Menschen keinen „Anker“ mehr finden.
Eine umfassende neue christliche Dogmatik wird dabei weder möglich noch nötig sein. Der Religionsunterricht ist aber eingeladen, die lange jüdisch-christliche Erzähltradition wieder zu entdecken. Religionsunterricht darf narrativer werden. Die Erzählkränze des Alten Testaments, die Gleichnisse Jesu und seine Zeichenhandlungen sowie die Bilder der Psalmen sind Einladungen für eine existentielle und undogmatische Rede von Gott. Im Licht biblischer Geschichten, Lieder, Gedichte und Bilder ist das Nachdenken über die großen Fragen des Lebens möglich.

Fünfte Aufgabe: Der Religionsunterricht entwickelt eine neue Willkommenskultur.
Schon jetzt dürfen konfessionslose Schülerinnen und Schüler am Religionsunterricht teilnehmen. Der Religionsunterricht wird künftig noch stärker auf diese Lerngruppe ausgerichtet sein. Seine Inhalte des ändern sich dadurch nicht, seine Didaktik aber schon. Die Fragen nach Jesus, nach der Bibel und nach Gott werden aber im Blick auf die Heterogenität der Zielgruppe didaktisch neu bedacht. Ihre Relevanz für das Leben von Nicht-Glaubenden muss in einem ergebnisoffenen Lernprozess erst entdeckt werden.

Zweiter Megatrend: Singularisierung

Mit Singularisierung bezeichnet der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz einen Kulturwandel, der in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begonnen hat: „Wohin wir auch schauen in der Gesellschaft der Gegenwart: Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere. Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre (S. 7).“
aus: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp 62018
Diese umfassende Veränderung hat auch Folgen für Bildung und Erziehung.

Singularisierung ist für die Religionspädagogik keine ganz neue Entwicklung. Der Religionsunterricht gibt schon länger nicht mehr die eine richtige Antwort auf die religiösen Fragen der Menschen. Nur selbst errungene Klärungen sind letztlich tragfähig. Die Diskussion um Singularität hat dieser religionspädagogischen Einsicht aber eine neue Dynamik verliehen. Zwei Aufgaben angesichts dieses Megatrends für den Religionsunterricht:

Sechste Aufgabe: Der Religionsunterricht organisiert religiöse Bildung als entdeckendes Lernen.
Der Religionsunterricht hat seine zentralen Unterrichtsinhalte nicht „in der Hand“. Lehrpersonen bleiben in den Fragen des Glaubens Lernende, auch nach einen Theologiestudium. Der Religionsunterricht versteht sich deshalb als eine Begleitung von Schülerinnen und Schüler zu eigenen Konstruktionen. Einsichten von Kindern und Jugendlichen nimmt er ernst, ohne ihnen in jedem Fall zuzustimmen.
Überlegungen zu einer Kinder- und Jugendtheologie gibt es schon seit Jahrzehnten. Andreas Reckwitz und seine Gesellschaft der Singularitäten erinnert den Religionsunterricht aber daran, dass religiöse Bildung nicht als Einführung in gesicherte Wahrheiten, sondern als Hilfestellung zu individuellem Entdecken organisiert wird.

Siebte Aufgabe: Der Religionsunterricht stärkt die Stimme der Schwachen in der Schule. „Leave no one behind!“
Singularisierung bedeutet: Wer Erfolg haben will, muss herausstechen. In dieser Konkurrenz können nicht alle gewinnen. Der Religionsunterricht fordert und fördert in der leistungsorientierten Schulkultur die Unterstützung derer, die von der Freiheit der Singularisierung nicht profitieren. Er tut das in Kooperation mit anderen, die sich dem gleichen Ziel verpflichtet wissen. Solidarität und gerechte Teilhabe liegen im Interesse der Gemeinschaft. In der Unterrichtspraxis thematisiert er den jüdisch-christlichen Grundwert der Nächstenliebe, durch die Mitgestaltung der Unterrichts- und Schulkultur praktiziert er ihn.

Dritter Megatrend: Globalisierung

Klimawandel, Migration, weltwirtschaftliche Ungerechtigkeit und die Gefährdung durch Pandemien, Kriege und schlechte Regierungsführung sind Zukunftsrisiken mit globaler Dimension. Das ist bekannt, aber noch nicht ausreichend handlungsleitend. Maßnahmen der Umsteuerung, die heute beschlossen werden, entfalten ihre Wirkung erst in einigen Jahren. Die Fehlentscheidungen und der Lebensstil gegenwärtiger und vorangegangener Generationen sind Hypotheken auf die Zukunft heutiger Schülerinnen und Schüler. Eine umfassende Neuausrichtung der Individuen und der Gesellschaft ist erforderlich. Der Religionsunterricht bahnt Handlungskompetenz an, die die Irrwege der Vergangenheit benennt, und macht Mut, dass der Wandel zur umfassender Nachhaltigkeit noch gelingen kann. Zwei Aufgaben angesichts dieses Megatrends für den Religionsunterricht:

Achte Aufgabe: Der Religionsunterricht hinterfragt die Orientierung an Werten und Erfahrungen früherer Generationen.
Auch „Ikonen“ haben Licht und Schatten. Unvollkommene Menschen, die nur in Teilbereichen ihres Lebens oder nur in einem entscheidenden Moment das Richtige getan haben, bieten mehr Lernchancen als klassische und berühmte Vorbilder. Das ist an sich nichts Neues. Angesichts der Notwendigkeit einer globalen Umsteuerung sind Lehrmeister der Vergangenheit aber nur noch eingeschränkt vorbildlich.

Neunte Aufgabe: Der Religionsunterricht entwickelt Ideen für glokales Handeln und stärkt die Selbstwirksamkeit.
Ein glokales Bewusstsein zu bilden, also den Blick auf lokales Handeln in globaler Perspektive zu lenken, ist Intention auch anderer Fächer. Der Religionsunterricht tut das aus einer Einsicht heraus, dass die Erde Gottes Werk ist, das zu bewahren auch ein christlicher Auftrag ist. In der Schule kann er den achtsamen und nachhaltigen Umgang mit der Schöpfung reflektieren und praktisch umsetzen. Im Lern- und Lebensraum Schule fordert er die Verantwortung einer und eines Jeden ein und ermutigt zugleich zur Tat.

Vierter Megatrend: Digitalisierung

Digitalisierung in der Bildung schätzt den Präsenzunterricht in der Schule nicht gering und will bewährte analoge Methoden nicht abschaffen. Den Unterricht will sie weder toolifizieren noch gamifizieren. Digitales Lernen meint eine umfassende Transformation des Unterrichtsgeschehens. Die pädagogische Herausforderung ist die Organisation der Lernprozesse in einer veränderten digitalen Umgebung. Sie umgibt die Lernenden, prägt ihr Leben und ihr Denken – Religion und Spiritualität eingeschlossen – und beeinflusst ihr Handeln. Die Religionspädagogik nutzt deshalb seit einiger Zeit den Begriff der Mediatisierung, um die Veränderungen in der Lern- und Lebenswelt zu beschreiben. Drei Aufgaben für den Religionsunterricht angesichts dieses Megatrends:

Zehnte Aufgabe: Religionsunterricht begleitet und fördert die religiöse Selbstsozialisation.
Um sich die Welt der Medien zu erschließen, benötigen Jugendliche keine Anleitung von Eltern und Lehrpersonen. Die Mediensozialisierung findet mehr oder weniger ohne die steuernde Einflussnahme Erwachsener statt. Sie ist also eine Selbstsozialisation und hilft umgekehrt der Medienkompetenz der Eltern auf die Sprünge. Der Religionsunterricht nimmt dieses Muster auf und versteht seine Bildungsaufgabe als Unterstützung der religiösen Selbstsozialisierung der Schülerinnen und Schüler. In vielen Lernbereichen finden Kinder und Jugendliche eigenständig Informationen, Podcasts und Lernvideos. Der Religionsunterricht prüft diese Lernangebote kritisch bezüglich Gehalt, Lebensweltbezug, Authentizität und Darstellung und lernt von ihnen.

Elfte Aufgabe: Die religiöse Sprachfähigkeit der Religionslehrperson wird noch wichtiger.
Die religiösen Influencer in den digitalen Netzwerken, denen viele Jugendliche folgen, beschränken sich nicht auf „ethische Themen“, sondern sprechen offen über Glauben, Gotteserfahrungen, Tod, Liebe, Zweifel, Sinn und Spiritualität. Auch die Religionslehrperson ist aufgefordert, in religiösen Fragen ihren eigenen Standpunkt verstärkt einzubringen. Es mag hilfreich sein zu wissen, wie Augustinus, Martin Luther oder das 2. Vatikanum den Glauben der Kirche beschrieben haben. Die größere Lernchance aber besteht darin zu erfahren, welche Erfahrungen die Lehrperson selbst gemacht hat. Ihre Authentizität, gepaart mit der Fähigkeit, Zuhören, Nachdenken und das Gespräch zu organisieren, ist für religiöse Lernprozesse essentiell. Lernende werden dabei nicht genötigt, übersehen oder überwältigt. Jede aber und jeder ist eingeladen, eine Position des Glaubens – möglicherweise auch nur probeweise – einzunehmen und fortlaufend zu überprüfen.

Zwölfte Aufgabe: Die Religionslehrperson nutzt digitale und kohlenstoffliche Netzwerke.
Unterricht mit geschlossener Tür ist schon länger aus der Mode gekommen. Die Digitalität hat nun das Klassenzimmer weit zur Welt hin geöffnet. Umso wichtiger ist es da, dass auch die Lehrperson vernetzt ist. „Einzelkämpfer“ können schwerlich zu Kooperationsfähigkeit und Gemeinschaftssinn anleiten. Digitale Netzwerke bieten Plattformen, die stärken, anregen, korrigieren und ermutigen können.

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