Horst Heller CC BY-SA 4.0
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In alter Zeit gab es einen König in der fernen Stadt Savatthi. Und jener König befahl einem seiner Diener: „Gehe und versammle alle von Geburt an Blinden, welche in Savatthi leben!“ – „So sei es, Herr“, antwortete dieser. Er ließ alle Blinden, so viele es auch in Savatthi gab, ergreifen und begab sich dorthin, wo der König weilte. Als er zum König zurückgekehrt war, sprach er: „Versammelt sind, Herr, alle von Geburt an Blinden, die in Savatthi leben.“ – „So sage ich dir, zeige du den Blinden einen Elefanten!“ – „Ich werde tun, was du mir befiehlst, Herr“, antwortete er und zeigte den von Geburt an Blinden mit den folgenden Worten einen Elefanten: „Dies, ihr Blinden, ist ein Elefant.“
Dann begab er sich zum König. Dort angekommen, sprach er: „Ich habe, Herr, den Blinden den Elefanten gezeigt. Tue jetzt das, was du wünschst.“ Und der König begab sich dorthin, wo die Blinden versammelt waren, und sprach er zu ihnen: „Ist euch, ihr Blinden, der Elefant gezeigt worden?“ – „So ist es, Herr, der Elefant wurde uns gezeigt.“ – „So sagt nun, wem gleicht der Elefant?“
Die Blinden, die das Haupt des Elefanten betastet hatten, sagten: „Ein Elefant, Herr, ist gleich einem Topf.“ Jene, welche die Ohren befühlt hatten, sprachen: „Ein Elefant ist gleich einem Worfelsieb.“ Und die den Stoßzahn berührt hatten, die sagten: „Ein Elefant ist gleich einer Pflugschar.“ „Ein Elefant ist wie ein Pflug“, sagten andere, noch andere, die einen Fuß erkundet hatten, sprachen: „Ein Elefant ist gleich einem Nahrungsspeicher.“ So gab es viele Antworten, und sie glichen einander nicht. „Der Elefant ist doch ein großer Mörser.“ „Nein, er gleicht einem Stößel.“ „Es ist nicht wahr“, riefen andere: „Der Elefant fühlt sich an wie ein Besen.“
Und sie ereiferten sich und sprachen: „Ein Elefant ist nicht so.“ – „Nicht so ist der Elefant, sondern anders ist er.“ Sie drangen aufeinander mit Fäusten ein. Darüber aber belustigte sich der König sehr.

Diese Geschichte ist ein Gleichnis für die schwierige Suche nach Gott und zugleich ein Bild für die Religionen. Sie alle fragen nach der Wahrheit. Und ihre Antworten fallen höchst unterschiedlich aus.
Es hat immer Menschen gegeben, die ihre Erkenntnis exklusiv für wahr hielten. Die Wahrheit war allein ihnen offenbart worden. Wer anderer Meinung war, konnten nur irren. Es galt, sie zu überzeugen. Jahrhundertelang sind so „Dialoge“ geführt worden. Und bis heute versuchen Menschen, ihre Überzeugung mit Fäusten oder gar mit Waffen durchzusetzen und „Ungläubige“ zu bestrafen.
Es hat aber auch immer Menschen gegeben, die kopfschüttelnd und hochnäsig über die Gottsuche der Menschen lachten. So wie sich der König darüber lustig machte, dass die blinden Menschen hinter dem zurückblieben, was er erkannt hatte. Er lachte nicht nur deshalb über sie, weil er sehen konnte und sie nicht, sondern auch, weil sie sich so ereiferten. Die Wahrheitsfrage fand er lächerlich. „Was ist Wahrheit?“, diese rhetorische Frage aus ihrem Mund klang, als sei die Antwort unerheblich: „Was ist schon Wahrheit?“

Die Geschichte von den Menschen, die einen Elefanten tastend zu erkennen glauben, stammt aus Indien. Sie gibt es in vielen Variationen. Eine davon kennt eine Fortsetzung: „Da gesellte sich ein Weiser zu den Blinden und erklärte ihnen: Ihr habt alle Recht. Der Grund, warum jeder es anders erklärt, ist der, dass alle ein anderes Körperteil des Elefanten berührt haben. Denn in Wahrheit hat ein Elefant alle Eigenschaften, die ihr erwähnt habt.“
Ich möchte mit diesem Weisen gern in ein Streitgespräch eintreten.

Ich sage zu ihm: „Du glaubst, ein weiser Mensch zu sein, aber du redest Unsinn.“
Er: „Wie kannst du so etwas sagen?“
Ich: „Du bist nicht klüger als diese Blinden. Selbst, wenn du mehr gesehen hast als sie, ist doch deine Antwort falsch. Willst du ihnen weißmachen, ein Elefant gleiche einem Topf, einem Worfelsieb, einer Pflugschar, einem Nahrungsspeicher und einem Mörser? Du glaubst doch nicht, dass die Summe dieser Gegenstände einen Elefanten ergibt.“
„Du verstehst es nicht,“ antwortet er mir. „Der Elefant steht für Gott, für die wahre Religion. Verstehst du die metaphorische Bedeutung dieses Bildes?“
„Die verstehe ich“, antworte ich. „Doch auf der Suche nach Gott bist du genauso unwissend wie sie. Die Blinden können wenigstens beschreiben, was sie ertastet haben. Sie sprechen von ihrer Erfahrung. Derer können sie sicher sein. Sie schließen daraus auf die Wahrheit. Du aber spekulierst. Was du behauptest, kannst du nicht plausibel machen. Von Beweisen wollen wir gar nicht reden. Dich hat ein Blindenführer um den Elefanten herumgeführt. Aber du hast nichts angefasst. Du hast nicht seine Haut berührt, nicht seine Bewegungen gespürt. Die Summe aus zehn Irrtümern ist noch keine Wahrheit. Du bist nicht weise, du bist vermessen. Das ist dein Irrtum.“
„Und du“, antwortet er mir, „bist du klug? Weißt du die Wahrheit über Gott?“
Ich zögere. War ich zu hart? Weiß ich denn mehr? Oder weiß ich nur alles besser? Doch er möchte mich verstehen, deshalb sage ich: „Ich weiß die Wahrheit über Gott nicht, aber willst du mir zuhören? Dann sage ich dir, was ich mir überlegt habe.“
Er widerspricht nicht.
„Jesus war mit seinen Jüngern auf dem Weg nach Jerusalem. Da sagte er zu ihnen: ‚In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wenn ich aber hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen. Und wo ich hingehe, den Weg wisst ihr‘. Da antwortet Thomas, einer von den Zwölfen: ‚Herr, wir wissen nicht den Weg. Wie können wir den Weg wissen?‘“ Wie Thomas bin ich auf einem Weg, Gott zu suchen. Ich verlasse mich darauf, dass Jesus mir auf diesem Weg vorangeht, aber wie Thomas weiß ich kaum, wohin er mich führt. Ich ahne nur, was auch Thomas ahnt: Auf dem Weg begegnet er Pontius Pilatus, der ihn fragt: „Was ist Wahrheit?“ Jesus gibt ihm eine Antwort, aber Pilatus interessiert sie kaum. Er glaubt nicht, dass es eine Wahrheit gibt.
Der Weise denkt nach und schweigt zunächst. Dann fragt er mich: „Willst du damit sagen, dass wir alle blind sind? Dass niemand etwas über Gott weiß?“
„Wir sind alle ziemlich blind. Ja, das glaube ich. Ich habe mich auf diesen Weg gemacht. Ich hoffe, dass mich mein Weg zu Gott führt. Du gehst einen anderen Weg. Das finde ich normal und gut. Ich möchte diesen Weg weitergehen und ich möchte, dass auch du auf deinem Weg weitergehst. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich ans Ziel kommen, und du kannst es auch nicht.“
„Warum gehst du denn dann diesen Weg?“
„Weil Stehenbleiben und nicht mehr nach der Wahrheit zu fragen für mich keine Option ist“, antworte ich. „Weil mir die Wahrheit nicht egal ist, weil ich sie von ganzem Herzen finden möchte. Ich vertraue darauf, dass die Wahrheit Gottes sich eines Tages zeigt. Denn Jesus hat zu seinen Jüngern gesagt: ‚Ihr werdet die Wahrheit erfahren, und die Wahrheit wird euch frei machen.‘“
„Die Wahrheit liegt also in der Zukunft? Wie verstehst du diesen Satz von Jesus“, fragt er mich.
„Der Satz macht mir Hoffnung, dass wir irgendwann Gott schauen und erkennen können. Aber nicht solange, wir noch auf dem Weg sind. Aber dass ich am Ende Recht behalte, hat mir niemand versprochen.“
„Dann bist du also nicht weise?“, fragt er mich.
„Wir wissen nicht, wer klug ist und wer klüger als der andere ist. Ich weiß nur, dass ich vorhin grob zu dir war.“
„Wollen wir weiter, jeder auf seinem Weg, nach der Wahrheit suchen?“, fragt er mich.
„Ja, sehr gern“, antworte ich. „Lasst uns jeder seinen Weg gehen. Von Zeit zu Zeit treffen wir einander und setzen dieses Gespräch fort.“
„Wir wollen bescheiden bleiben“, antwortet er mir, „und nicht so tun, als seien wir schon am Ziel…“
„Und über Menschen, die auch auf der Suche sind, werden wir nicht lachen“, ergänzt er meinen Satz.
Wir verbeugen uns und geben einander die Hand. Dann trennen sich unsere Wege. Wir wissen nun nicht mehr, ob einer von uns wirklich klug oder weise ist. Vielleicht werden wir es erfahren. Aber es ist nicht mehr wichtig.

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