
In meiner Heimat ist der Protestantismus weniger von lutherischer, mehr von reformierter und unierter Theologie geprägt. Martin Bucer (1491-1551), Zacharias Ursinus (1534-1583) und Johann Friedrich Butenschoen (1764-1842) sind drei der Namen, die für den Pfälzer Weg des versöhnten Miteinanders der beiden evangelischen Konfessionen stehen. Aber nur wenige von ihnen sind Namensgeber von Kirchengemeinden, Einrichtungen, Gemeindehäusern oder kirchlichen Schulen geworden. Die Zahl der Martin-Luther-Kirchen hingegen ist groß. Das erstaunt. Denn der Wittenberger Reformator hatte menschliche und theologische Schwächen:
- Luther war polemisch. Luther war in seiner Wortwahl gegenüber seinen Gegnern nicht zimperlich. Insbesondere den Papst beschimpfte er unflätig. Klar, seine derbe Redeweise, mündlich wie schriftlich, war in gewissem Grad sogar kreativ und teilweise stilbildend. Klar ist ebenso, dass auch seine Gegner schwere Geschütze auffuhren. Aber Beleidigungen bleiben Beleidigungen. Die Kunst, Meinungsunterschiede auszutragen, ohne den Disputanten herabzusetzen, beherrschte der Reformator nicht.
- Luther konnte keine Kompromisse schließen. Am deutlichsten wurde das beim Marburger Religionsgespräch (1529) mit Huldrych Zwingli. Es ging um ein Wort. „Hoc est corpus meum. Das ist mein Leib (Mk 14,22).“ Was bedeutete das Wort est in diesem Satz? Wieviel Leid wäre der evangelischen Seite erspart geblieben, hätten die Anwesenden eine Formel gefunden, mit der beide Seiten leben konnten.
Dem hochgelehrten und klugen Philipp Melanchthon kommt diesbezüglich ein besonderes Verdienst zu. Er war der einzige unter Luthers Mitstreitern, dem Luther eine abweichende Meinung verzieh (außer vielleicht seiner Frau Katharina). Er hörte ihm zu, ließ ihn manchmal sogar gewähren und verzichtete darauf, in ihm die Versuchung des Teufels zu sehen, wenn er ihm nicht zustimmte. - Luther hatte Angst vor dem Teufel. Dies überrascht zunächst. Hatte er doch mit seiner reformatorischen Entdeckung den gnädigen Gott gefunden, der seine Angst zunächst überwand. Doch nicht nur auf der Wartburg, wo er der Legende nach das Tintenfass nach der Teufelsfratze warf, sondern sein ganzes Leben lang lebte er in der Sorge, der Teufel könne sein Werk zerstören. Die dritte Strophe seines reformatorischen Liedes Ein feste Burg ist unser Gott gibt deutlich Zeugnis davon: „… Der Fürst dieser Welt, wie sau’r er sich stellt, tut er uns doch nicht; das macht, er ist gericht’. Ein Wörtlein kann ihn fällen.“
- Luther und die Bauern. Über Luthers Reaktion auf die Gewalt der Bauern ist viel geschrieben worden. Zunächst hatte er ihre Forderungen unterstützt, dann aber empfahl er den Landesherren, die Aufstände niederzuschlagen. Auch hier sah Luther sein geistliches Werk in Gefahr. Er erkannte nicht, dass das Mittelalter, in dem jeder Stand sein – wenn auch manchmal nur bescheidendes – Auskommen hatte, zu Ende ging. Mit der Reformation zerbrach die kirchlich-theologische Einheit des Mittelalters, mit dem Bauernkrieg (endgültig) die gesellschaftlich-ökonomische.
- Luther und die Juden. War Luther ein Antisemit? Nachdem er zunächst sich freundlich gegenüber Juden geäußert hatte, vertat er zunehmend antijüdische Einstellungen und verbreitete sie im Alter. Seine Einstellung zum Judentum prägte den Protestantismus über Jahrhunderte. Auch, wenn er sich keiner rassischen Argumentationsmuster bediente (die es im 16. Jahrhundert noch nicht gab), konnten Antisemiten des 19. Jahunderts und die Nationalsozialisten zu ihrer Rechtfertigung aus seinen Schriften zitieren. Diese werfen einen Schlagschatten auf seine Theologie. Antisemiten beriefen sich auf Luther. Verheerend!
Aber: An keinem anderen Reformator kann man so gut zeigen, was es bedeutet, evangelisch zu sein.

- Die Entdeckung des gnädigen Gottes. Wir wissen nichts Sicheres über Gott, aber dass er menschenfeindlich, rachsüchtig, hinterlistig oder gleichgültig ist, können wir ausschließen. Luther fand diese Erkenntnis im Römerbrief und in den Psalmen. Er hätte auch das Gleichnis vom gütigen Vater des verlorenen Sohnes lesen können. Die Parabel hätte zwar nicht seine Frage nach der Gerechtigkeit Gottes beantwortet, aber den gnädigen Gott finden wir auch in den Gleichnissen Jesu – wie überhaupt überall in beiden Testamenten der Bibel.
- Seine Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache war ein geniales Werk. Für das Alte Testament arbeitete der Reformator dafür im Team, aber es war und ist seine Sprache, die sich bis heute in der Lutherbibel wiederfindet. Als das Werk vollendet war, war jede und jeder, die/der lesen und schreiben – oder wenigstens zuhören – konnte, in der Lage, die biblischen Texte nachzuerzählen und konnte versuchen, sie zu verstehen. Heute ist die Hochschätzung der Bibel in der Landessprache auch im Katholizismus unumstritten. Gott sei Dank!
- Der Wert der Predigt. Luther predigte sein Leben lang, fast täglich. Die protestantische Predigtkultur geht auf Luther (und andere) zurück. Die evangelische Kirche ist gut beraten, wenn sie diese Tradition nicht vernachlässigt, sondern sie verstärkt ausbildet und pflegt.

- Solus Christus. Lukas Cranachs Bild an der Predella des Altars der Wittenberger Stadtkirche zeigt Luther auf der Kanzel. Vor ihm stehen und sitzen die Honoratioren der Stadt, unter ihnen der Maler selbst. Auch Katharina Luther und der älteste Sohn Hans sind zu erkennen. Mit der ausgesteckten Hand deutet Luther auf den gekreuzigten Christus in der Mitte des Bildes. Dieses Gemälde aus dem Jahr 1547 sagt mehr als ein theologischer Aufsatz über die Mitte lutherischer Theologie.
- Freiheit und Gewissen. Luthers Gewissensbegriff war noch nicht modern. Sein Gewissen war noch nicht frei. Aber sein Auftreten vor dem Reichstag von Worms zeigte, dass sein Gewissen ihn einerseits an Bibel und Vernunft band, ihm aber andererseits die Freiheit gewährte, Kaiser, Papst und Kardinälen zu widersprechen.
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