Horst Heller (CC BY-SA 4.0)
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Erzähltext von Nadine Klimbingat, Horst Heller (CC0)

Die Geschichte von Jakob und Esau beginnt weit vor ihrer Geburt. Abraham, nach biblischer Tradition der Großvater der beiden Zwillinge, ist noch am Leben. Er weiß sich von Gott gesegnet. Ihm und Sara sind Nachkommen versprochen und ein gemeinsamer Sohn geschenkt worden. Der ist nun erwachsen – und ledig. Nun muss auch er heiraten und – zusammen mit seiner Frau – Kinder haben. Nur so kann sich die Verheißung erfüllen, dass Abrahams Nachkommen zahlreich sein werden.
Als Isaak schon ein erwachsener Mann war, dachte Abraham noch einmal über den Segen Gottes nach. Gott hat Sara und mir Kinder, Enkel und Urenkel versprochen. Unsere Nachkommen werden so zahlreich sein wie der Sand in der Wüste oder die Sterne am Nachthimmel. Isaak ist unser Sohn. Aber er hat keine Kinder. (aus dem Erzähltext)
Aber Abraham will nicht, dass er ein Mädchen aus dem seiner neuen Heimat zur Frau nimmt. So entsendet er seinen Knecht Elieser nach Haran, in die Stadt, aus der er vor Jahren aufgebrochen war, um im Land Kanaan zu wohnen.
Hier leuchtet eine Dimension der Erzählung auf, die zeigt, in welcher Zeit diese Erzählung entstanden ist. Israel ist inzwischen ein Volk geworden, doch Angehörige des Volkes der Kanaanäer bewohnen mit den Israeliten zusammen das Land. Die Frage einer Eheschließung über die ethnischen und religiösen Grenzen hinweg ist ein in dieser Zeit viel diskutiertes Thema.
Auf dem Weg in Abrahams alte Heimat stellen sich Elieser Fragen über Fragen: Wer von den Mädchen des Ortes soll es denn nun sein? Und wie erkenne ich sie? Wie sage ich es ihr? Und schließlich: Wird sie bereit sein, ihre Heimat zu verlassen und mit mir in das unbekannte Land Kanaan zu reisen? All diese Fragen hatte er auch schon seinem Herrn Abraham gestellt, doch der hatte ausweichend geantwortet. „Gott wird sie dir zeigen.“

Die erste Frau, die Elieser sieht, als er Haran erreicht, bittet er um einen Becher Wasser. Er kennt weder ihren Namen noch den ihrer Familie. Wasser für einen durstigen Reisenden kann ihm die unbekannte junge Frau nicht verweigern, die Gastfreundschaft gebietet ihr das. Aber dass sie nicht nur ihm zu trinken gibt, sondern auch seine Tiere tränkt, lässt ihn aufmerken. Er beschenkt sie mit kostbarem Schmuck: einem Stirnreif und zwei Armreifen. Das ist bereits mehr als ein Dankeschön für den Trunk. Er fragt sie nach ihrem Namen und dem ihrer Familienmitglieder. Sie heißt Rebekka, sagt sie und geht nach Hause. Elieser hingegen wartet am Brunnen. Er weiß: Bald schon wird Klarheit herrschen.

Und so ist es. Laban, der Bruder der Rebekka, kommt heraus und lädt den Gast zum Essen ein. Einen Reisenden zu bewirten ist mehr als ein guter Brauch. Es ist eine Verpflichtung. Beim Gastmahl kommt die Sprache auf das Ziel der Reise des Elieser: Er soll für Isaak eine Frau suchen und er meint, in Rebekka bereits die Richtige gefunden zu haben. Die ganze Familie – und das heißt: die Männer – berät darüber.
Eine Eheschließung war in der orientalischen Antike – und nicht nur dort – keine Sache der beiden Liebenden, sondern eine Angelegenheit zweier Familien. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass Elieser nicht mit Rebekka unter vier Augen über diese Lebensentscheidung spricht. Ob Rebekka an dem Festmahl überhaupt teilgenommen hat, bleibt in der Schwebe. Möglicherweise haben Frauen und Männer nicht gemeinsam gegessen. Aber entscheidend ist etwas anderes: Auch wenn Väter und Brüder zusammen mit ihren Familien über die Anbahnung einer Eheschließung verhandeln, die Braut wird nicht übergangen. Ohne ihre Einwilligung wird auch die Familie ihren Segen nicht geben. Rebekka wird offiziell gefragt. (Dass auch Isaaks Einwilligung eingeholt worden ist, wird übrigens nicht überliefert.)
Als die Mahlzeit beendet war, sprach Laban zu Elieser: „Wenn Gott dir Rebekka gezeigt hat, dann soll sie mit dir nach Kanaan ziehen und Isaaks Frau werden. Aber erst wollen wir hören, was Rebekka dazu sagt.“ Und sie riefen Rebekka herein, sie war nämlich schon aufgestanden. „Rebekka, du hast gehört, was Elieser, der Knecht Abrahams, gesagt hat. So fragen wir dich: Willst du mit diesem Mann nach Kanaan ziehen und Isaak heiraten?“ Rebekka antwortete: „Ja, das will ich.“ (aus dem Erzähltext)
So ist die Sache also entschieden. Elieser beschenkt die Braut, ihre Mutter und die Familie. Die Kamele werden beladen, die Familie nimmt Abschied von Rebekka. Für sie beginnt ein neues Leben. Wie wird es werden?
Die kostbaren Geschenke sind Ausdruck der neuen Verbundenheit der Familien und zugleich ein Nachweis, dass der Verlobte auch als Ehemann für seine Frau und die gemeinsamen Kinder wird sorgen können. Der Familie ersetzen die Geschenke einen Teil des Verlustes, den sie durch die Abreise ihrer Tochter erleiden. Denn sie hat ja als Hirtin gearbeitet und gewiss noch weitere Aufgaben gehabt. Die Geschenke, die die Braut erhält, werden ihr persönliches Eigentum.

Als sie schon im Land Kanaan waren, sah Rebekka, dass ihnen ein Mann entgegenritt. „Wer ist das?“, fragte sie. „Das ist Isaak, der Sohn meines Herrn Abraham“, antwortete Elieser. Da stieg Rebekka vom Kamel und verhüllte ihr Gesicht mit einem Tuch. Denn ein Mann durfte seine Ehefrau erst nach der Hochzeit unverschleiert anschauen. (aus dem Erzähltext)
Angesichts der gesellschaftlichen Diskussion um das Kopftuch ist diese Episode besonders wertvoll. Nicht Elieser oder ein anderer Mann fordert Rebekka auf, ihr Gesicht zu verhüllen. Sie selbst tut es. Diese Tradition hat sich bis in unsere Zeit erhalten. Die Braut trägt auf ihrem Weg in die Kirche einen Schleier vor dem Gesicht, der erst zum Kuss nach der geschlossenen Ehe gehoben wird.
Im Erzählkranz Jakob ist diese Episode auch deshalb wichtig, weil es – einige Kapitel später – Laban gelingt, seinen Neffen Jakob mit einer Frau zu verheiraten, die er sich nicht ausgesucht hatte.
Isaak und Rebekka heiraten und werden Eltern von Zwillingen, die so unterschiedlich sind, wie es Geschwister nur sein können. Esau, der ältere, verlässt gern das elterliche Haus, er liebt die Jagd. Er wird der Liebling seines Vaters. Jakob dagegen ist häuslich, kocht gern und bleibt nahe bei seiner Mutter. Beide haben unterschiedliche körperliche Merkmale und sie riechen unterschiedlich. Rebekka mag Jakob mehr als seinen Bruder, doch nur der Erstgeborene erbt den besonderen Segen des Vaters. Wozu Rebekka imstande ist, um ihren Liebling zu dem zu verhelfen, was eigentlich seinem Bruder zusteht, ahnt der Leser zunächst noch nicht.

Eines Tages kam Esau müde und hungrig von der Jagd nach Hause. Jakob hatte gerade eine Suppe gekocht. Esau fand, dass sie gut roch. „Gib mir eine Schale deiner Suppe, Bruder!“, sagte er zu Jakob. Jakob entgegnete: Du kriegst eine Suppe, aber nur wenn ich ab heute der Erste bin. Ich will den Segen unseres Vaters.“ Esau war einverstanden. Der Segen unseres Vaters macht mich nicht satt, dachte er. Von mir aus soll er der Erste sein. Er hätte alles für eine Schale Suppe gegeben, so hungrig war er. (aus dem Erzähltext)
Diese Szene gehört zu den populärsten Elementen des Erzählkranzes. Doch im Gegensatz zu ihrer Bekanntheit hat sie nur eine geringe Bedeutung für den Fortgang der Erzählung. Denn obwohl Esau für eine Schale Suppe auf sein Erstgeborenenrecht verzichtet hat, geht doch niemand der Protagonisten davon aus, dass sich damit etwas Entscheidendes geändert hat. Als Jakob später seinen Bruder überlistet, fühlt der sich dennoch betrogen. Ein Satz wie: „Was willst du, Esau? Du hast mir doch dein Recht abgetreten!“ fällt nicht. Offenbar ist der Segen für den Erstgeborenen eigentlich unverkäuflich. Es bedarf noch mehrerer Lügen, um ihn am Ende doch zu erhalten.

Als Isaak sich auf das Sterben vorbereitet, will er seinem ältesten Sohn den Segen weitergeben, den er einst von seinem Vater Abraham erhalten hat. Er ist fast erblindet. In der Erzählung sind die vier Protagonisten – Isaak, Rebekka, Esau und Jakob – handelnde Personen, doch die Rollen sind seltsam verteilt: Rebekka, die einzige Frau unter den Familienmitgliedern, ist die aktivste. Sie entwickelt den Plan, den Vater zu hintergehen, und tut alles, damit der Betrug gelingt. Sie kocht den Braten, von dem sie weiß, dass er Isaak gut schmeckt. Sie umwickelt die Hände ihres Lieblingssohns mit Fell und holt das Festgewand des Esau, damit Tastsinn und Nase ihres Mannes ihn in die Irre führen. Um Jakob einen Vorteil zu verschaffen, bringt sie ihren Sohn Esau um sein Recht und belügt ihren Ehemann. Der Leser ist bestürzt.
Jakob ist mehr als ein williges Werkzeug seiner Mutter. Er prüft, ob das Vorhaben der Mutter Risiken enthält. „Mein Vater kennt meine Stimme. Wenn ich auffliege, wird er mich nicht segnen, sondern verfluchen.“ Die Mutter hat auch dafür eine Lösung. Jakob, getrieben von dem Ziel, künftig und für immer der Erste zu sein, führt den perfiden Plan seiner Mutter aus. Da er Esau, der noch auf der Jagd ist, zuvorkommen muss, ist Eile geboten. Als der Vater sich wundert, dass der Braten so schnell serviert wird, wo doch das Tier zunächst gejagt, zerlegt und zubereitet werden muss, sagt er: „Der Herr hat mir Jagdglück beschert.“ Es ist eine von drei Lügen – aber diese ist ihm spontan selbst eingefallen.
Isaak, dessen Segen das begehrte knappe Gut ist, um das die beiden Brüder konkurrieren, wirkt wie ein gutmütiger Großvater, mit dem die Angehörigen ihr böses Spielchen treiben. Sein Augenlicht ist schwach, aber er bemerkt offenbar auch nicht, dass er kein gejagtes Wild verzehrt, sondern ein Tier aus der eigenen Herde. Er segnet schließlich den Falschen.
Nicht lange danach kam Esau und brachte dem Vater den Braten, den er für ihn bereitet hatte. „Ich bin Esau, Vater“, sagte er. „Hier ist der Braten, so wie du ihn magst. Iss davon und dann segne mich, wie du es versprochen hast.“ „Esau?“, fragte Isaak. „Ja, du bist es. Ich erkenne deine Stimme. Aber wen habe ich gerade gesegnet?“ So kam der Betrug ans Licht. Esau schrie: „Vater, segne mich auch! Hast du nur einen Segen?“ „Gott hat die ganze Welt gesegnet. Diesen Segen kann ich dir schenken. Aber den Segen für den ersten Sohn kann ich nur einmal geben.“ Er segnete Esau, aber der wusste, dass er betrogen worden war. (aus dem Erzähltext)
Esau erscheint in dieser Episode als der Rechtschaffene, der tut, was ihm sein Vater aufgetragen hat. Sein Vertrauen, dass dem Anständigen kein Unglück droht, wird bitter enttäuscht. Den Segen, den Jakob gestohlen hat, kann er nun nicht mehr bekommen. Dass er Jakob dafür mit dem Tod droht, erscheint schon fast verständlich. Immerhin will er den Brudermord aber nicht ausführen, solange der Vater noch lebt. Isaak segnet zwar auch ihn, aber es ist der weniger exklusive Segen, der für die ganze Welt und alle Kreatur gilt. Wieviel er wert ist, werden wir sehen.
Nach alttestamentlicher Ansicht ist die ganze Welt gesegnet. Gottes guter Segen gilt für alle Menschen, ja für die gesamte Kreatur. Seine Wirkung lässt nicht nach, wenn er weitergegeben wird. Das ist der Grund, warum Menschen einander segnen dürfen, auch wenn sie keine Pfarrinnen oder Pfarrer sind. Davon unterschieden ist der persönliche Segen für Abraham und Sara. Er geht nicht auf alle Nachkommen über, sondern jeweils nur auf einen von ihnen.

Rebekka ist nun am Ziel, doch sie muss verhindern, dass Jakob von seinem Bruder getötet wird. Er muss verschwinden, aber wohin? Auch hier hat Rebekka eine Idee. Er soll einige Jahre in ihrer Heimat bei ihrem Bruder Laban leben. Irgendwann, so hofft sie, wird sich Esau beruhigen. Eine Abreise Jakobs ohne die Einwilligung seines Vaters ist allerdings nicht denkbar. Rebekka weiß aber auch hier einen Rat. Sie erinnert an die Tradition von Isaaks Familie:
„Dein Vater Abraham wollte nicht, dass du eine Kanaanäerin heiratest. Er hat deshalb seinen Knecht Elieser nach Haran gesandt, dass er dort eine Frau für dich findet. Er hat mich hierhergebracht. Willst du, dass dein Sohn Jakob eine Kanaanäerin heiratet? Nein, dann schicke nun auch ihn nach Haran, damit er sich dort eine Frau sucht.“ (aus dem Erzähltext)
Diesem Argument kann sich Isaak nicht entziehen. Er entlässt Jakob, der sich auf den Weg macht. Seine Reise führt ihn dorthin, wo einst Elieser seine Mutter getroffen hatte. Halb ist es eine Flucht, die ihm das Leben retten soll, halb ist es ein Auftrag seines Vaters: Suche dir dort eine Frau, so wie mein Vater das für mich gemacht hat.

Die Reise dauert viele Tage. Am Ende eines der Reisetage legt sich Jakob an einem unbekannten Ort schlafen. In der Nacht träumt er den Traum der Himmelsleiter, in der er die verborgene Präsenz Gottes wahrnimmt. Als er aufwacht, erschrickt er. Denn er hat sich unwissentlich an einem Ort aufgehalten, an dem Gott anwesend ist. Er hätte sterben müssen, wie jeder, der Gott zu nahe kommt. Doch er lebt und wird erneut gesegnet. Dankbar baut er einen einfachen Altar. Den Ort nennt er Bet-El, Haus Gottes.
Dass ein Segen wiederholt wird, ist nicht ungewöhnlich. Vergleichbar einer Liebeserklärung macht sie die älteren Segnungen nicht ungeschehen, unwichtig oder unvollkommen. Doch der Segen von Bet-El überbietet den Segen des Vaters. Hatte er sich diesen noch erschlichen, wird ihm jener ohne eigenes Zutun und unvermittelt erteilt. Auch die weiteren Worte der Stimme, die er ihm Traum hört, sind wichtig. Der Gott seines Großvaters Abraham und seines Vaters Isaak, von dem er annehmen muss, dass er in Bet-El verehrt werden will, geht nun mit ihm. Die Vorstellung, dass Gott Menschen auf ihren Wegen begleitet, wird geboren. Die Nähe Gottes macht ihm keine Angst, sie macht ihm Mut. Auch erhält Jakob hier das Versprechen, dass er eines Tages nach Kanaan zurückkehren wird. An diesem wichtigen Ort richtet er einen Stein auf und übergießt ihn mit Öl. Er wird viele Jahre später – nach der Aussöhnung mit seinem Bruder – hierher zurückkehren und ein Heiligtum errichten, an das sich die Menschen noch erinnern, die diesen Erzählkranz niederschreiben.

Jakob bricht auf. Was er vor der Stadt Haran erlebt, erscheint wie eine Wiederholung der Erlebnisse des Elieser – mit einigen charakteristischen Unterschieden. Wie der Knecht seines Großvaters sitzt Jakob vor der Stadt am Brunnen und knüpft dort erste Kontakte. Die Zisterne ist mit einem Stein bedeckt, der verhindern soll, dass Sand, Erde oder gar ein Tier in den Brunnen fallen könnten. Erst wenn alle Herden eingetroffen sind, wird üblicherweise der Brunnen geöffnet. Hatte Elieser das Mädchen, das ihm begegnete, um einen Becher Wasser gebeten und überrascht wahrgenommen, dass sie nicht nur seinen Durst, sondern auch den seiner Tiere löschte, so ergreift Jakob die Initiative. Er erkundigt sich nach Laban, seinem Onkel, dem Bruder seiner Mutter Rebekka. Die Hirten zeigen auf ein Mädchen, das gerade aus der Stadt auf sie zu kommt: „Schau, das ist Rahel, Labans Tochter.“ Jakob springt auf, rollt den Stein vom Brunnen, als wäre er ganz leicht, und lässt Rahels Tiere als erste trinken. Die anwesenden Hirten müssen sich verwundert die Augen gerieben haben. Sein Verhalten wird nicht begründet, aber der Hörer der Geschichte darf sich seinen Teil denken: „Verliebte Jungs…“

Schon bald arbeitet Jakob im Hause seiner Onkels als Schafhirte. Nach einem Monat stellt ihm sein neuer Arbeitgeber die Frage, auf die er gewartet hat.
Laban rief ihn zu sich: „Du bist zwar ein Verwandter, Jakob. Aber du sollst trotzdem nicht umsonst für mich arbeiten. Sage mir: Was soll ich dir als Lohn geben?“ Jakob überlegte nicht lange. „Ich werde sieben Jahre für dich arbeiten, Laban. Dann gib mir deine Tochter Rahel zur Frau. Das soll mein Lohn sein.“ „Du willst meine Tochter heiraten?“, fragte Laban und überlegte. „Gut, Jakob, arbeite sieben Jahre für mich, dann soll sie deine Frau werden.“ (aus dem Erzähltext)
Jakob benötigt niemanden, der für ihn um die Hand seiner Angebeteten bittet. Er tut es selbst. Anders als bei seiner Mutter wird dieses Mal nicht erzählt, dass auch Rahel gefragt wird, aber der Fortgang der Geschichte lässt vermuten, dass auch sie einverstanden ist.
Nach sieben Jahren wird Hochzeit gefeiert. Nun wird der, der einst seinen Vater belogen und seinen Bruder betrogen hat, selbst Opfer einer perfiden Täuschung. Die Frau, die während der Trauzeremonie an seiner Seite gesessen und mit der er die Nacht verbracht hat, ist nicht seine Angebetete, sondern ihre ältere Schwester. Der Schleier, den die Braut am Tage der Hochzeit getragen hat, und die Dunkelheit der Nacht haben den Betrug ermöglicht. Erst im Licht des nächsten Morgens wird offenbar: Er hat nicht Rahel, sondern Lea geheiratet.
Jakob stellt seinen Schwiegervater zur Rede:
„Ich wollte Rahel heiraten! So war es ausgemacht. Was hast du mir angetan?“ Doch Laban sagte: „So ist es Brauch bei uns. Zuerst heiratet die ältere Schwester, dann die jüngere. Arbeite noch einmal sieben Jahre für mich, dann kannst du auch Rahel haben.“ (aus dem Erzähltext)
Nicht nur Jakob ist betrogen worden, auch Rahel kann ihren Verlobten nicht heiraten. Es bleibt offen, wann sie von dem Spiel erfahren hatte, das ihr Vater da eingefädelt hat. Auch erfahren wir nicht, welche Gedanken Lea durch den Kopf gegangen sind, die nun die Ehefrau eines Mannes geworden ist, der eine andere begehrt. Labans Antwort ist eine wenig glaubwürdige Ausrede, aber sie wirft ein Licht auf sein Motiv. Hat er Sorge, dass seine ältere Tochter andernfalls keinen Ehemann findet? Das mag sein, doch Betrug bleibt auch hier Betrug.
Der angerichtete Schaden ist – anders als bei Jakobs Betrug an seinem Bruder – zu heilen. Weil eine Ehe mit mehreren Frauen offenbar nicht ausgeschlossen ist, darf er auch Rahel heiraten, allerdings erst, wenn er weitere sieben Jahre für seinen Schwiegervater gearbeitet hat.
Gibt es Menschen, Lebensziele oder Werte, für die es sich lohnt, sieben Jahre zu warten?
Nun hält Laban sein Versprechen. Jakob heiratet ein zweites Mal und Rahel wird doch noch seine Frau. Dass er nicht beide Frauen gleichermaßen liebt, ist ein Problem für Lea. Sie wird auch nicht dadurch getröstet, dass sie ihm Kinder schenkt, während Rahel zunächst nicht schwanger wird.

Jakob kommt in Haran zu Reichtum. Doch weil er es nicht lassen kann, immer wieder die Dinge so zu wenden, dass sie ihm einen Vorteil bringen, kommt es zum Streit mit seinem Onkel. Jakob beschließt, dass nun die Zeit gekommen ist, nach Kanaan zurückzukehren. Wie ein guter Ehemann befragt er seine Frauen, bevor er die Vorbereitungen trifft. Sie sind einverstanden, fürchten aber – wohl mit guten Gründen – dass ihr Vater sie nicht gehen lassen wird. So beschließt man, heimlich aufzubrechen. Die Kamele werden nachts beladen, und als die Sonne aufgeht, sind Vater, Mütter und Kinder bereits über alle Berge.
Eine kleine Anekdote in der biblischen Geschichte ist für den Unterricht in der Grundschule wenig geeignet, doch sie wirft ein besonderes Licht auf Rahel und auf die Erzählkunst der Bibel. Rahel hat nicht nur ihren Besitz mitgenommen, sondern auch eine kleine Götterstatue entwendet. Es erstaunt, wie die Erzählung unbefangen davon spricht, dass Laban offenbar ein kleines Gottesbild besitzt, für israelitische und jüdische Ohren eigentlich ein No Go. Die heimliche Abreise seiner Töchter und seines Schwiegersohnes kann Laban hinnehmen, aber den Diebstahl dieser Kultfigur will er nicht dulden. Jakob weiß nicht, was seine Frau getan hat und gestattet Laban, der die Karawane eingeholt hat, alles zu durchsuchen. Rahel aber sitzt auf dem Kamel und hat das Götterbild zwischen ihren Beinen versteckt. Als Laban das Gepäck der Geflohenen erfolglos durchsucht hat, fordert er seine Tochter auf, von ihrem Reittier abzusteigen. Ihre Antwort ist herzzerreißend, aber eine glatte Lüge: Sie bittet den Vater vielmals um Verständnis und Nachsicht, doch es gehe ihr gerade „nach der Art der Frauen“. Sie habe ihre Tage und könne nicht aufstehen. Laban hat keine Wahl. Seine Tochter darf er heute nicht anrühren. Sie hat sich als die Listigere erwiesen und steht ihrem Ehemann darin offenbar in nichts nach. Laban bleibt nichts anderes übrig als einzulenken. Er und Jakob schließen Frieden. Er reist zurück nach Haran, Jakob und die Seinen aber ziehen weiter nach Kanaan.

An der Grenze zu dem Land, in dem Jakob seinem Bruder Esau begegnen kann, müssen die große Familie und die Tiere eine Furt durchqueren. Jakob geleitet seine Frauen und ihre Kinder noch vor Sonnenuntergang durch den Fluss, er selbst bleibt für eine letzte Nacht am anderen Ufer in Sicherheit. In dieser Nacht hat er erneut eine Begegnung, die in der Bibel mit ungewöhnlicher Vieldeutigkeit beschrieben wird.
In der Nacht wurde Jakob von einem Fremden angegriffen. Es kam zu einem Ringkampf. Jakob wehrte sich und kämpfte die ganze Nacht. Und als die Sonne aufging, war er der Sieger. Da sagte der Fremde zu ihm: „Lass mich gehen.“ „Ich lasse dich nur gehen, wenn du mich segnest“, antwortete Jakob. Der Fremde fragte: „Wie heißt du?“ „Ich heiße Jakob, und ich bin ein Betrüger“, antwortete der. „Gut, Jakob“, antwortete der Fremde. „Von heute an sollst du einen neuen Namen tragen. Nun heißt du Israel. Ich will dich segnen.“ Jakob wunderte sich. „Sag mir, wie heißt du?“, fragte er den Fremden. Doch der gab ihm keine Antwort. Da musste er an Bet-El denken. (aus dem Erzähltext)
Der Kampf am Jabbok ist eine der rätselhaftesten Geschichten des gesamten Erzählkranzes. Wer begegnet ihm da? Und was bedeutet der Kampf und der anschließende Dialog? Mit der Überschreitung des Jabbok betritt Jakob das Land Edom, das Land Esaus. In der Kunstgeschichte wird der seltsame Kämpfer oft mit Flügeln dargestellt, als sei er ein Engel. Der Dialog und insbesondere der neue Name, der Jakob gegeben wird, legen aber nahe, dass hier von Gott selbst die Rede ist, dessen Name er nicht erfährt. Ringt Jakob tatsächlich mit Gott selbst? Aber wieso bleibt er dann Sieger? Im Unterricht darf das in der Schwebe und deutungsoffen bleiben.
Manche Ausleger machen deutlich, dass der Name Jakob an das hebräische Wort Betrüger erinnert. Wenn Jakob also nach seinem Namen gefragt wird und er antwortet: „Ich bin Jakob“, dann klingt es wie: Ich bin ein Betrüger.“ So hätte Jakob zum ersten Mal eingestanden, dass sein Weg von Kanaan nach Haran und zurück von Egoismen und Gemeinheiten geprägt ist. Sein neuer Name steht dann auch für eine neue Chance: Du bist nun nicht mehr der Betrüger-Jakob, du darfst neu beginnen. Der Name Israel erinnert zudem daran, dass mit Jakob nun der Stammvater des Volkes Israel den Jabbok überschreitet.
Jakob bereitet sich vor, dem zu begegnen, dessen Rache er noch immer fürchten muss. Er sendet einige Hirten voraus. In befremdlicher Weise teilt er auch seine Familie auf. Seine Kinder, die er mit den Mägden seiner Frauen gezeugt hat, müssen vorausgehen, dann folgen Lea und ihre Kinder, den Schluss bilden Jakob, seine Lieblingsfrau Rahel und ihr einziges gemeinsames Kind Josef.
Dann betritt Esau die Bühne. Ist er beeindruckt von dieser Inszenierung? Nein, sie interessiert ihn nicht.
Dann kam ihnen Esau entgegen. Auch er hatte viele Tiere bei sich. Er zog an Jakobs Schafen vorbei und trat vor seinen Bruder. „Was soll das?“, fragte er und deutete auf die Herden, die Jakob vorausgeschickt hatte. „Ich brauche deine Geschenke nicht. Sieh doch, ich habe selbst mehr als genug. Es ist gut, dich wiederzusehen, Bruder.“ (aus dem Erzähltext)
Die Geschichte endet also mit einer Versöhnung, in der sich die beiden Brüder um den Hals fallen. In einem orientalischen Dialog streiten sie noch einmal. Esau will Jakobs Geschenke nicht annehmen, akzeptiert sie aber am Ende doch. So kann Jakob sicher sein, dass seine Entschuldigung gilt. Auch Esau ist zu Wohlstand gekommen ist. Der „zweitbeste“ Segen seines Vaters hat seine Wirkung auch entfaltet.
Der Erzählkranz Jakob ist von seiner ersten Episode an immer mit der Geschichte Abrahams verbunden. An seinem Ende finden sich nun auch die Gelenkstellen zur biblischen Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Warum Josef so ungerecht bevorzugt wird, wird hier klar. Er ist der zunächst einzige Sohn Rahels. Sie schenkt später einem weiteren Sohn das Leben – es ist Benjamin, der in der Josefsgeschichte eine besonders anrührende Rolle spielt. Rahel allerdings stirbt bei seiner Geburt. Sie wird in Betlehem, der Stadt Davids, bestattet.

Lernchancen und Gesprächsanlässe
Die Erzählung bietet zahlreiche theologische und anthropologische Ansatzpunkte, die auch mit Schülerinnen und Schülern der Grundschule erarbeitet werden können. Einige Stichworte:
- Geschwister sind unterschiedlich: Gibt es eine Alternative zu Neid und Konkurrenz?
- Älter sein vs. jünger sein: Ist es gut, der die Ältere zu sein? Hat es auch Vorteile, jünger zu sein.
- Mädchen und Frauen wollen mitreden: Rebekka wird gefragt, ob sie mit Elieser nach Kanaan ziehen will. Warum ist es wichtig, Mädchen nach ihren Wünschen zu fragen – und geschieht das oft genug?
- Opfer und Täter: Jakob belügt seinen Vater, betrügt seinen Bruder, wird aber selbst betrogen. Der Täter wird zum Opfer. Ändert das etwas für ihn?
- Mehr als ein Opfer: Der Erzählkranz Jakob erzählt von mehr als einem Betrug. Jedes Mal gibt es mehr als ein Opfer? Wer sind die anderen – zum Teil ungenannten – Opfer der Betrügereien? Haben Lüge und Betrug dem Täter letztlich Vorteile gebracht?
- Jakob Traum: Was genau ist der Inhalt seiner Vision von Bet-El?
- Wertvoller Segen: Kinder und Jugendliche wollen gesegnet sein. Was ist anders, wenn ein Leben gesegnet ist? Können Menschen Menschen segnen?
- Jakobs neuer Name: Am Fluss Jabbok bekommt Jakob einen neuen Namen. Zuvor hat er sich eingestanden, dass er ein Betrüger ist. Hat beides etwas miteinander zu tun?
Einige theologische Fragen sind Steilvorlagen für das Nachdenken und Theologisieren im Unterricht:
- Segen exklusiv: Der Segen, den Isaak nur einem seiner Kinder geben konnte, kann kein zweites Mal gespendet werden. Warum ist das so?
- Segen ergaunert: Den Segen, den Jakob erhält, hat er sich durch Betrug erschlichen. Ist er überhaupt wirksam?
- Der Gott, der mitwandert: Am Morgen nach dem Traum erschrickt Jakob, denn er ist überzeugt, Gott begegnet zu sein. Dass dieser Gott zusagt, ihn zu begleiten, macht ihm hingegen keine Angst, sondern stärkt ihn. Was hat sich da verändert?
- Ist Gott unfair? Jakob ist ein Betrüger, aber offenbar steht Gott dennoch zu ihm. Wieso hält er nicht zu dem rechtschaffenen Esau?
- Der seltsame Ringkampf in der Nacht: Wem ist Jakob am Fluss Jabbok begegnet? Warum nennt der Unbekannte nicht seinen Namen?
- Gegen Gott gewinnen? Was bedeutet die Metapher eines Ringkampfes mit Gott? Ist es möglich mit Gott zu kämpfen – und zu siegen?
Blogbeiträge zum Thema auf www.horstheller.de
22.09.2019: Will Gott, dass wir an ihn glauben? Die Gottesfrage und die Bielefeld-Verschwörung
19.01.2020: Der Zorn des Propheten. Eine Anklage, Michelangelos Jona in den Mund gelegt, und eine Erkenntnis, die er gewinnt.
09.02.2020: Die Nagelbilder im Andachtsraum des Deutschen Bundestags haben eine deutlich sichtbare Kreuzform. Gibt es Abgeordnete, denen das nicht fromm genug ist?
14.03.2020: „Für mich hätte er nicht sterben müssen.“ Gedanken zur Passion Jesu aus religionspädagogischer Sicht
31.05.2020: Nachdenken über Jakob und Esau – theologische und didaktische Überlegungen und ein Erzählvorschlag
25.08.2020: Warum wir auf das Wort Mission verzichten sollten
05.10.2020: Fünf Dinge, die sich Religionslehrerinnen und Religionslehrer vom Ethikunterricht wünschen
01.11.2020: Die Suche nach Gott – oder: Wer von uns beiden ist weise?
02.01.2021: „Mein Gott ist bei mir. Ich seh‘ ihn nicht, versteh‘ ihn nicht, und trotz dem ist er hier. Josef und seine Brüder. Warum uns die Geschichte von Josef und seinen Brüdern bis heute anrührt und was wir von ihr lernen können.
28.08.2022: Abraham und Sara – Acht Episoden und religionspädagogische Überlegungen zu Wüste, Segen und Gottes Stimme