„Ti voglio bene assai.“ Als der schwerkranke Maestro in die grünen Augen seiner Schülerin blickte. Eine Erinnerung an Enrico Caruso

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Am Golf von Sorrent, unweit von Neapel, betritt ein Reisender müde eine Hotellobby, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Der Raum ist bis auf den Rezeptionisten menschenleer. Dieser hört laute Musik und achtet nicht auf den Gast, der zu ihm an den Tresen tritt. „Ich hätte gern ein Zimmer.“ „Wie bitte?“ Der Mann hat ihn nicht verstanden. „Ich hätte gern ein Zimmer“, wiederholt er. Keine Chance. Wer will schon ein Zimmer, wenn er ein Hotel betritt?

Er stellt seinen Handkoffer ab und macht sich am Lautstärkeregler des Kofferradios zu schaffen. „Ich hätte gern ein Zimmer“, sagt er noch einmal mit Nachdruck. Der Rezeptionist dreht die Musik wieder auf, gibt ihm aber wortlos einen bereitliegenden Schlüssel und deutet eine Verbeugung an. Der Gast ergreift seinen Koffer, wendet sich um und verlässt zögernd den Empfangsbereich. Vor der Tür seines Zimmers bleibt er stehen. Sie ist angelehnt. Als sie sich langsam öffnet, versetzt es ihn zurück in das Jahr 1921. Er begegnet einer Legende. Der italienische Opernsänger Enrico Caruso hat die letzten Wochen seines Lebens in diesem Zimmer verbracht.

Die Szene ist das Intro eines Musikvideos von Lucio Dalla aus dem Jahr 1986. Er war mit seinem Boot unterwegs und musste wegen eines Motorschadens die Reise unterbrechen und übernachtete im Excelsior Vittoria in Sorrent. Die Hotelangestellten erzählten ihm die ergreifende Geschichte dieses Zimmers und von der letzten Liebe des bereits vom Tode gezeichneten Opernsängers. Sie regte ihn zu seinem berührendes Lied „Caruso“ an.

Carusos Todestag jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal. Er stammte aus einfachen Verhältnissen in Neapel und wurde ein Weltstar. Doch sein Ruhm hatte Schattenseiten. Ärger mit Konzertveranstaltern, Affären, Neider und kriminelle Freunde machten ihm zu schaffen. Weil man ihm in seiner Heimatstadt Neapel nicht die Anerkennung zollte, die er beanspruchte, verließ er Italien und setzte seine Karriere an der Metropolitan Opera in New York fort. In Amerika stellten sich Glück und Erfolg ein. Im Jahr 1920 erkrankte der Sänger schwer. Er kehrte nach Italien zurück, doch es war bereits zu spät. Die letzten Wochen seines Lebens verbrachte er in diesem Hotelzimmer und gab dort Gesangsunterricht. Er verliebte sich noch einmal. Eine seiner Schülerinnen weckte in ihm die Lebensgeister, die schon abgestorben schienen.

„Qui dove il mare luccica e tira forte il vento, su una vecchia terrazza davanti al golfo di Sorrento un uomo abbraccia una ragazza dopo che aveva pianto. Poi si schiarisce la voce e ricomincia il canto.”
Hier, wo das Meer glitzert und ein starker Wind weht, auf einer alten Terrasse am Golf von Sorrent umarmt ein Mann ein Mädchen, nachdem er geweint hat. Dann findet er seine Stimme wieder und beginnt wieder zu singen.

In den grünen Augen seiner Schülerin erkannte der schwerkranke Maestro die Schönheit des Meeres seiner Heimat und die Lichter der italienischen Nächte. Im Angesicht des Todes bedeutete ihm die Begegnung mit der jungen Schülerin mehr als die glänzenden Erfolge in Amerika. Eine Umarmung auf der Terrasse des Hotels zeigte ihm, dass er nach den Sternen gegriffen, aber das Glück in seiner Nähe übersehen hatte.

„Potenza della lirica, dove ogni dramma è un falso, che con un po‘ di trucco e con la mimica, puoi diventare un altro. Ma due occhi che ti guardano, così vicini e veri, ti fanno scordare le parole, confondono i pensieri.”
In der Oper ist alles Trug. Mit ein wenig Schminke und Mimik wirst du ein anderer. Aber zwei Augen, die dich anschauen, so nah und so echt, lassen dich jedes Wort vergessen und verwirren die Gedanken.

Lucio Dallas „Caruso“ wurde eines der erfolgreichsten und vielleicht auch eines der schönsten Lieder des Bolognesers. Der Refrain erinnert an den neapolitanischen Dialekt des großen Tenors. Es ist ein musikalisches Denkmal für den früh Verstorbenen und zugleich ein philosophisches Gedicht über die Werte, die letztendlich im Leben zählen.

„Te voglio bene assai, ma tanto tanto bene, sai. È una catena ormai, che scioglie il sangue dint’e vene, sai.“
Ich mag dich sehr, so, so sehr, weißt du. Es gibt ein Band zwischen uns, das Blut in meinen Venen ist aufgetaut (und fließt wieder), weißt du.

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