Vespa 75. Wie aus einem alltagstauglichen Roller eine Stilikone wurde

Horst Heller

Am 23. April 1946 meldete der italienische Ingenieur Corradino D’Ascanio den Namen Vespa zum Patent an. Er schuf einen Roller, der nur eines sicher und zuverlässig leisten musste. Er sollte Menschen für wenig Geld über die Schlaglöcher italienischer Straßen zur Arbeit und zurück nach Hause bringen. Einfache, aber individuelle Mobilität für alle war das Ziel. Der Scooter sollte leicht zu bedienen und einigermaßen bequem, vor allem aber in Anschaffung und Unterhalt erschwinglich sein.

Seitdem sind über 75 Jahre vergangen. Aus einem Roller mit drei Pferdestärken ist ein Life Style Produkt geworden. Es schmückt angesagte Bars, den Eingangsbereich von Einkaufszentren, sogar Automessen. Zugleich findet sich das nostalgische Schmuckstück weiterhin in großer Zahl auf den Straßen und tut seinen Dienst. In einem dreiviertel Jahrhundert wurde „die Wespe“ fast 20 Millionen mal verkauft. Bis heute bewährt sie sich millionenfach als nützliches Produkt und ist zugleich Kult. Eigentlich ist beides nicht möglich.

Denn anders als früher suchen Menschen heute nicht mehr nach dem Gewöhnlichen, sondern nach dem Einzigartigen. Nicht das Reihenhaus, sondern die individuell gestaltete Eigentumswohnung ist das Ziel. Ihre Einrichtung darf aber nicht von der Stange, sondern muss außergewöhnlich sein. Eine Reise nach Mallorca ist begründungsbedürftig, die Namen der Kinder sind möglichst einzigartig. Unikate sind begehrt. „Deutschland – aber normal!“ ist in der Tat eine Parole von gestern.

Deswegen ist es eigentlich nicht möglich, dass ein Massenprodukt Emotionen bindet, solange es noch seinem ursprünglichen Zweck dient. Ein VW-Käfer konnte erst Kultstatus bekommen, als er in Deutschland nicht mehr hergestellt wurde. Der Golf, sein Nachfolger, verursacht vergleichsweise wenig Herzklopfen.

In unserer schnellen und gestylten Gegenwart sind Gegenstände begehrt, die nicht „mit der Zeit“ gehen, aber dennoch nicht veralten. Der Vespa hat eine außergewöhnliche Karriere gemacht und ist noch zu Lebzeiten zur Legende geworden. Wie der zeitlos schönen und zugleich im Alltag nützlichen Bahnhofsuhr ist ihr der Spagat zwischen hoher Stückzahl und Singularität gelungen. Weil sie zudem die Lebensform junger Menschen in den 1950er Jahren repräsentiert, die (in unserer Perspektive) Leichtigkeit, Liebe und italienische Dolce Vita miteinander verband, wird sie nicht nur geschätzt, sondern auch geliebt.

Der Schreiber dieser Zeilen ist selbst gerührt, während er diesen Text schreibt. Er hat noch nie eine Vespa als Fortbewegungsmittel genutzt. Aber das, wofür sie steht, erfüllt ihn wieder einmal mit Sehnsucht.

Wohin wir auch schauen in der Gesellschaft der Gegenwart: Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere. Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre.
Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp 62018, S. 7

Horst Heller: Wer Erfolg haben will, muss herausstechen. Zu Andreas Reckwitz‘ Gesellschaft der Singularitäten

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