
Der Hauptbahnhof in Mailand zählt mit 24 Gleisen zu den bedeutendsten Bahnhöfen Europas. Im Jahr 1913 wurde mit seinem Bau begonnen. Wegen des Weltkriegs und der Wirtschaftskrise war er im Jahr 1922, als Benito Mussolini in Rom die Macht an sich riss, noch immer nicht vollendet. Das gab den neuen Machthabern die Möglichkeit, die Pläne in ihrem Sinne zu ändern. Das zunächst im klassizistischen Stil und in angemessener Größe geplante Gebäude wurde – ganz im Sinne faschistischer Architektur – eine steingewordene Machtdemonstration.


Die Plattformen der Bahngleise wurden verlängert und mit stählernen Überdachungen versehen. Die Empfangshalle wurde erhöht. Der Prospekt wurde so wuchtig konstruiert, dass ein einzelner Mensch vor den Säulen klein und unwichtig erscheint. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber die Ästhetik des Faschismus, die an griechische und römische Formen anknüpft, diese aber ins XXL-Format ausdehnt und dadurch Ehrfurcht und Einschüchterung ausstrahlen will, gehört unwiederbringlich einer vergangenen Epoche an.

Gut sichtbar ließ Mussolini, der an der Eröffnung am 1. Juli 1931 gar nicht teilnahm, weil auch der Erzbischof von Mailand aus Protest gegen staatliche Übergriffe abgesagt hatte, eine Inschrift anbringen. Sie lautete:
Nel anno MCMXXXI dell’ era di Cristo / Im Jahr 1931 der Ära Christi
Nel anno IX dell’era dei Fasci / Im Jahr 9 der Ära des Faschismus
„… im Jahr 1931 der Ära Christi, im Jahr 9 des Faschismus…“ Aus diesen Zeilen spricht nicht nur der Wunsch, der eigenen Ideologie eine steinerne Gestalt zu geben, die ihre menschlichen Vertreter überleben sollte. Die Inschrift offenbart auch eine grenzenlose Selbstüberschätzung. Die Ära des italienischen Faschismus hielt sich tatsächlich für eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte, die im einem Atemzug mit dem Zeitalter Post Christum Natum genannt werden dürfe und erinnert damit an die verheerende Verirrung des „tausendjährigen Reiches„.
Die „Era dei Fasci“ endete endgültig vierzehn Jahre nach der Einweihung von Milano Centrale. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die zweite Zeile der Inschrift entfernt. Dies geschah aber so, dass bis heute die Abdrücke der Zahlen und Buchstaben zu erkennen sind. Auch 75 Jahre nach dem Ende des italienischen Faschismus sind sie ein stiller, pragmatischer, aber deutlicher Fingerzeig: Die Vergangenheit ist beendet. Ihre Spuren aber werden nicht beseitigt. Vergessen werden soll sie nicht. Deshalb erinnert auch eine Gedenkstätte im Bahnhof an die Shoa. Sie befindet sich an der Stelle, wo unter deutschem Kommando italienische Jüdinnen und Juden sowie politische Gefangene in die Konzentrations- und Vernichtungslager transportiert wurden.
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