Ohne die katholische Kirche wäre Rom heute eine unbedeutende Kleinstadt, behauptete einst mein Lateinlehrer. Warum er Unrecht hatte.

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Der Lateinlehrer meiner Schulzeit pflegte vor den Ferien gerne Dias von seinen Urlaubsreisen zu zeigen. Ich erinnere mich an jugoslawische Landschaften, in der die Karl May Filme gedreht wurden. Obwohl wir seine Lateinklasse waren, ist mir keines seiner Fotos aus Rom in Erinnerung geblieben, aber ich bin sicher, dass er auch Bilder aus der Ewigen Stadt gezeigt hat. Nur seine lakonische Analyse habe ich nicht vergessen. „Mit dem Niedergang des weströmischen Reiches hätte Rom seine Bedeutung als Weltstadt verloren, wenn nicht …, ja wenn nicht der Papst seinen Heiligen Stuhl nach Rom gestellt hätte.“ Als Katholik war er fest davon überzeugt, dass die Stadt Cäsars und Ciceros nur dank seiner Kirche eine Weltstadt geblieben sei.

Als Schüler war ich beeindruckt von dieser steilen These, weshalb ich sie bis heute nicht vergessen habe. Doch im Gymnasium habe ich gelernt, nicht alles zu glauben, was die Schule lehrt. Heute, an einem frühen Sonntagmorgen, bin ich auf der Via della Conciliazione zu Fuß unterwegs zum Symbol des katholischen Rom. Ich will wissen, ob mein Lateinlehrer recht hatte. Die römische Frühlingssonne ist mein Begleiter.

In der Vatikanstadt ist das katholische Rom in der Tat beeindruckend. Der Schönheit des Petersdoms kann ich mich nicht entziehen. Hier begegnen sich Kunst- und Kulturgeschichte, Religion und Reichtum, Kirche und Welt, weshalb sich auch heute wieder vor den Sicherheitskontrollen lange Schlange bilden werden. Ich erinnere mich aber auch an meinen Religionsunterricht: Die Basilika wurde vor allem mit dem Geld aus dem Verkauf von Ablassbriefen in Deutschland gebaut.

Mein persönliches Highlight in dieser Kirche ist eine Markierung auf dem Boden. Könnte man den Kaiserdom von Speyer mit seinen 134 Metern in die Vatikanischen Basilika stellen, reichte er ihr gerade mal „bis zur Hüfte“. Die Schönheit der immerhin einst größten Kirche der Welt verblasst vor der schieren Größe der Basilica di San Pietro in Vaticano. Doch das Wahrzeichen des katholischen Rom ist nur eine vom mehr als 1000 Kirchen in der Stadt. Sie sind fast alle katholisch.

Das katholische Rom hat in seiner langen Geschichte unzählige Bildhauer, Musiker und Maler angezogen. Doch nicht alle arbeiteten für den Papst oder die Kardinäle. Georg Friedrich Händel lebte vier Jahre in Rom, aber seine Opern wollte Papst Clemens XI. nicht hören. Viele Musiker, die in Rom Inspiration fanden, waren wie Händel evangelisch, so Felix Mendelssohn, seine Schwester Fanny Hensel und ihr Mann, der Maler Wilhelm Hensel. Der Protestant Johann Wolfgang Goethe, der fünfzehn Monate in der Via del Corso lebte, hielt Rom für die „Hauptstadt der Welt“, aber sein Interesse galt nicht den Bauwerken des Mittelalters oder des Barock. Sie erschienen ihm seelen- und leblos. Ihn faszinierte die Kultur der römischen Antike.

Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Goethe in der römischen Campagna, 1786/87

Vom „Rom der alten Römer„, das mein Lateinlehrer so sehr schätzte, fand Goethe viel mehr, als in einer „unbedeutenden Kleinstadt“ Platz hätte. Das Forum Romanum, in Rom Kaiserforen, Fori Imperiali genannt, lassen eine lang vergangene Epoche lebendig werden. Doch meine Verehrung für die Erbauer der Tempel und Arenen hält sich in Grenzen. Schon der Name des Kolosseums missfällt mir. Maßlose Prachtentfaltung der Kaiserzeit, die Kultur von „Brot und Spiele“ und die Sklaverei werfen dunkle Schatten auf Palatin und Palastruinen. Bei aller Ehrfurcht vor der nachhaltigen Bauweise dieser Zeit: Triumphbögen – auch solche aus der Neuzeit – sind für mich Erinnerungen an imperialistisches Unheil.

Ein Zwischenfazit: Die Zweifel an der These meines Lateinlehrers sind gewachsen. Aber jetzt ist es Zeit, einen Kaffee zu trinken. Kaffeebars in Rom sind schon länger eine multikulturelle Angelegenheit. Asiatische Pächter haben die Lizenzen erworben und bieten nun selbst Steh- und Sitzplätze für den ersten Caffèdes Tages, für den Espresso zwischendurch und den Workout-Aperitivo. Aber es gibt sie noch, die Baristi, die aus dem Viertel stammen und ihre Kundschaft beim Vornamen kennen.

Ich finde eine solche Kaffeebar mit einer kleinen Terrasse, einigen Tischen und Stühlen. Die besten Plätze sind bereits von Rentnern belegt, die zwar nichts konsumieren, dafür aber die Ereignisse auf der Straße gut im Blick haben. Ich gehe hinein. Einige Männer stehen schon an der Theke. Das Betreiberehepaar führt die Bar schon seit vielen Jahren. Er trägt ein weißes Langarmhemd, Krawatte und eine kaffeebraune Weste und bedient die große Kaffeemaschine. Sie trägt ein geblümtes Kostüm, eine Perlenkette und sitzt erhöht hinter der elektronischen Kasse. Ich bestelle Caffèund Cornetto Crema und gehe wieder nach draußen. Inzwischen hat sich auch eine Frau meines Alters mit weißer Bluse und Sonntags-Goldkette in die milde Sonne des Vormittags gesetzt. Die Besitzerin kommt heraus, wechselt einige Worte mit den Rentnern, bringt mir mein Frühstück, dazu ein Glas Wasser, und säubert meinen Platz. „Sie müssen auch heute arbeiten?“, frage ich. „Lavoriamo sempre!“, antwortet sie und lächelt. „Wir arbeiten immer.“ Sie mag ihre Gäste. Dann setzt sie sich zu meiner Nachbarin und bespricht mit ihr Familiäres. Natürlich im Dialekt, ich verstehe nichts.

Rom ist eine Stadt voller Menschen. Kirchen und Kunst, Colosseo und Caffè bilden „nur“ den Rahmen, in dem sie arbeiten und leben. Mir präsentiert sich die Hauptstadt Italiens als ein lebendiges Puzzle aus Antike, Barock und 21. Jahrhundert. Sie ist antik, italienisch, katholisch und multikulturell. Sie ist Geschichte und Gegenwart, Lebensraum für „Indigene“, Migranten, Gäste und Touristen. Wie wird die sich wohl meinen Ururenkeln präsentieren, wenn sie sie im Jahr 2122 einmal besuchen?

Dann ist es Zeit, weiterzugehen. Der Caffè ist längst getrunken. Ich stehe auf und gehe hinein, um zu zahlen. Die Besitzerin folgt mir und tippt den Betrag in die Kasse. „Due Euro venti – Zwei Euro zwanzig.“ Sie lacht mich an und freut sich, dass es mir bei ihr gefallen hat. Mein Lateinlehrer hatte Unrecht. Rom ist eine großartige Stadt.

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