Horst Heller
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Dieser Tage sind es drei Jahre her, dass diese Bilder um die Welt gingen. Ein Konvoi von Militärlastwagen transportierte die Toten der Pandemie aus der norditalienischen Stadt Bergamo zu Krematorien und Friedhöfen anderer Städte. Ich erinnere mich noch gut an die gespenstige Stille der Bilder im deutschen Fernsehen.
Drei Jahre nach dieser Tragödie besuchte ich die Stadt, die allein in der ersten Welle der Pandemie 750 Covid-Todesopfer beklagen musste. Dabei wurde mir bewusst, mit welcher Geschwindigkeit sich die Pandemie ausgebreitet und wie unvorbereitet sie Politik und Gesellschaft getroffen hatte. Am 8. März war Bergamo zur „roten Zone“ erklärt worden, am Freitag, 13. März fand meine letzte vorpandemische Unterrichtsstunde statt. Am 16. März musste mein Büro schließen, wenige Tage später auch die Geschäfte.
Ich fragte einen ehrenamtlichen Reiseführer in der oberen Altstadt nach einem Gedenkort der Stadt. Er war überfragt. „Im letzten Jahr haben sie etwas gemacht“, sagte er, aber mehr wusste er nicht. Ich wunderte mich. Gibt es denn keinen Ort der Erinnerung in der Stadt, die im Ausland wie keine andere für die Überforderung des Gesundheitssystems durch die Corona-Pandemie steht?
Ich durchsuchte die digitalen Ausgaben der Zeitungen des Landes. Ich erfuhr, dass der 18. März seit zwei Jahren der italienische Gedenktag für die Opfer der Pandemie sei. Schließlich fand ich einen wichtigen Hinweis. Bergamos Bürgermeister Giorgio Gori hatte im Beisein von Premierminister Mario Draghi am 18. März 2021, also am Jahrestag der traurigen Kolonne, in Bergamo einen Baum gepflanzt. „Wir können uns nicht umarmen“, hatte Draghi an diesem Tag vor wenigen Dutzend Anwesenden gesagt, „aber das ist heute der Tag, an dem wir uns noch vereinter fühlen.“ Diesen Baum wollte ich finden.
Ich fand ihn. In einem Stadtpark, den die Bergamaschi, die Menschen aus Bergamo, für Familienausflüge nutzen, war ein Bosco della Memoria, ein kleiner Wald der Erinnerung entstanden. Um eine rechteckige geschotterte Fläche standen in mehreren konzentrischen Kreisen eine Reihe von Bäumen. Im Zentrum dieses lebendigen Denkmals erblickte ich einen drei Meter hohen Gedenkstein aus weißem Carrara-Marmor, das Werk des Bildhauers Giuseppe Penone. Eine erläuternde Inschrift half mir beim Verstehen. Sie deutet an, dass auch das härteste Material von Lebenskraft durchzogen ist.
Indistinti confini. La linfa che nutre gli alberi indica il fluire della materia e la vita che scorre indistinta nel corpo del mondo.
Verschwommene Grenzen. Der Pflanzensaft, der die Bäume ernährt, deutet auf das Fließen der Materie und des Lebens hin. Unterschiedslos strömt er durch den Körper der Welt.
Ich blicke mich um und stellte fest: Ich war der einzige Besucher dieses Ortes an diesem Vormittag. Die Menschen im Park hatten anderes zu tun. Sie hatten ihr Picknick ausgepackt, ließen ihre Hunde laufen und drehten ihre Joggingrunden. Augenscheinlich hatten sie – wie der Fremdenführer – die Pandemie hinter sich gelassen und sich wieder dem Leben zugewandt. Vielleicht war das ja die Botschaft des Denkmals.
Ich verließ den Park und suchte am Ausgang nach dem Namen dieses Stadtgartens – und erlebte eine Überraschung: Im Jahr 2018 hatte der Park, ursprünglich Parco alla Trucca, einen neuen Namen erhalten. Er wurde dem deutschen Reformator Martin Luther gewidmet und heißt nun Parco Martin Luthero alla Trucca. Dass sich hier das Denkmal für die Opfer der Pandemie befindet, hat aber wohl mit diesem Namen nichts zu tun. Eher mit dem großen Krankenhaus auf der anderen Straßenseite.




https://www.rnd.de/politik/italien-gedenkt-corona-toten-baume-in-bergamo-als-symbol-des-schmerzes-einer-nation-NQCIAV4NGZA7RLKC2UY4U3DIFQ.htmK
https://www.panorama.it/lifestyle/cultura/indistinti-confini-vittime-covid
https://youtu.be/hP2MmUuXm7Y
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