Wie alt ist eigentlich der Räuber Hotzenplotz? Oder: Niemand ist wirklich nur böse. Eine Erinnerung

Text: Horst Heller.
Bilder mit freundlicher Genehmigung des Verlags
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Es ist über 60 Jahre her, dass er in den Buchhandlungen sein Wesen trieb, und da war er schon erwachsen. Wie alt ist er heute? Etwa schon 100 Jahre? Zumindest sein Autor Otfried Preußler wäre dieser Tage ein Jahrhundert alt geworden. Fünf Jahrzehnte sind es her, dass der Räuber Hotzenplotz mich gefangennahm. Seither kenne ich die Worte Feuerpatsche und Spritzenhaus. Auch das Sprichwort „Sauer macht lustig“, mit der sich Kasperl in der Gefangenschaft des Zauberers Petrosilius Zwackelmann aufmuntert, verbinde ich bis heute mit seiner Geschichte. Der Junge mit der Kasperlmütze isst eine sauer eingelegte Gurke und macht sich dann auf die Suche nach dem Geheimnis des Zauberschlosses.

Apropos Gefangenschaft. Auch der Autor dieses Kinderbuches hatte eine Gefangenschaft erlebt. „Ich habe fünf entscheidende Jahre meines Lebens hinter Stacheldraht verbracht: Jahre, in denen ich normalerweise studiert, mich in fremden Ländern umgesehen hätte“, schrieb er im Jahr 2002. Dieses Schicksal teilte er mit vielen Gleichaltrigen, auch mit meinem Vater, den die Erinnerungen an die lange Gefangenschaft in Westsibirien jahrzehntelang nicht losließen.

Seit 60 Jahren haben Kinder, die den Räuber Hotzenplotz lesen, viel zu lachen. Da sind die Slapstick-Einlagen, durch die Kasperl aus dem Räuber Hotzenplotz den Herrn Plotzenhotz oder den Räuber Lotzenplotz und aus den großen Zauberer Petrosilius Zwackelmann den Zeprodilius Wackelzahn macht. Da sind aber auch die komödiantischen Stilmittel: Der Räuber mit den sieben Messern im Gürtel und der Pfefferpistole verwechselt Kasperl und Seppel, nur weil sie die Kopfbedeckungen getauscht haben. Und für eine Kaffeemühle setzt er sein freies Räuberleben auf’s Spiel.

Otfried Preußler wuchs in jenem Teil Böhmens auf, den Hitler 1938 durch Lügen, falsche Versprechungen und das Münchner Abkommen seinem nationalsozialistischen Reich einverleiben konnte. Preußlers Familie begrüßte den „Anschluss“ zunächst, fühlte sie sich doch als Deutsche. Gleich nach dem Abitur musste er in den verbrecherischen Krieg ziehen. Als einer der wenigen seiner Kompanie konnte er zwar sein Leben retten, doch 22-jährig kam er in russische Gefangenschaft. Die Parallelen zum Leben meines Vaters sind zahlreich, aber keineswegs zufällig. Beide Männer teilten das Schicksal einer ganzen Generation in Deutschland, die ihre besten Jahre zwei Diktaturen opfern mussten, und eine Kriegsgefangenschaft ertrugen, die ihnen Hoffnung und Würde zu rauben versuchte. Nach ihrer Heimkehr versuchten sie, wieder beruflich und privat wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Die Erinnerungen an Angst, Entbehrung und Tod ließen sich nicht einfach beiseite schieben.

Preußer entschied sich für den Lehrerberuf und arbeitete nebenher als Schriftsteller und Journalist. In den 1960er Jahren begann er mit seinem Jugendroman Krabat. Er kam nur langsam voran. Nicht allein berufliche und gesundheitliche Belastungen verzögerten die Vollendung des Buches. Im Krabat reflektierte er auch seine eigene Biographie. Er nannte diesen Roman später die „Geschichte eines jungen Menschen, der sich mit finsteren Mächten einlässt, von denen er fasziniert ist, bis der erkennt, worauf er sich da eingelassen hat. Es ist zugleich meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation, und ist die Geschichte aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“ (Geschichtenerzähler, S. 189)

Konkreter wurde Preußler nie, aber es ist offensichtlich, dass der Autor damit an sein Leben im Schatten zweier Diktaturen dachte.

Der Krabat belastete Preußler sehr. Schließlich unterbrach er seine Arbeit und machte sich an den Räuber Hotzenplotz. Er wollte etwas Lustiges schreiben. Das gelang ihm. Aber auch in dieses Kinderbuch wob er Biografisches. Die Großmutter und ihre Kaffeemühle erinnern an Dora, Preußlers Großmutter, die ihren Enkeln unendlich viele Geschichten von früher zu erzählen wusste. Der Wald, in dem Kasperl und Seppel den Hotzenplotz aufspüren, indem sie der Sandspur folgen, die der Räuber selbst gelegt hat, erinnert an die böhmische Heimat Preußlers, in der der junge Otfried oft mit seinem Vater unterwegs war.

Hat er in seinem Räuber Hotzenplotz auch Erinnerungen an Krieg und Gefangenschaft verarbeitet? Immerhin entstand dieses Buch, als er die Arbeit am Krabat zunächst zur Seite legte. Dieser Frage wollte ich nachgehen. Denn Preußler selbst hatte einmal gesagt: „Es steckt in jedem der Bücher ein Stück unseres Lebens.“ (Quelle)

Und tatsächlich, ich wurde fündig.

Als Kasperl und Seppel versuchen, dem Hotzenplotz die gestohlene Kaffeemühle wieder abzujagen, geraten sie in einen Hinterhalt. Beide kommen in Gefangenschaft. Seppel muss dem Räuber die Schuhe putzen, Kasperl aber wird an den Zauberer Petrosilius Zwackelmann verkauft und muss dort im Garten arbeiten, Holz spalten und täglich eine unvorstellbare Menge Kartoffeln schälen. Er arbeitet in der Küche, hat aber selbst nichts zu essen. Er versucht zu fliehen, doch der Zaun ist unüberwindlich. Im Keller des Schlosses hat der Zauberer zudem die gute Fee Amaryllis eingesperrt.

Verglichen mit dem bösen Zauberer erscheint der Räuber Hotzenplotz fast sympathisch. Zwar raubt er nicht nur Kaffeemühlen und Fahrräder, sondern ist auch auf Gold aus, aber er ist doch kein Bösewicht wie Zwackelmann. In den Folgebänden des 1962 veröffentlichen ersten Hotzenplotzbuches wandelt er sich mehr und mehr zu einem Raubein mit harter Schale, aber weichem Kern. Vor der resoluten Großmutter streckt er schon mal die Hände in die Höhe, wenn sie ihn mit dem Klammerbeutel bedroht. So verwundert es nicht, dass er mitten im dritten Band endgültig sein Leben ändert und das Gasthaus zur Räuberhöhle eröffnet. Seinen Räuberberuf hängt er an den Nagel. In einem Gespräch mit Kasperl und Seppel begründet er seinen beruflichen Wechsel in die Gastronomie: Das Böse sei nie seine wahre Natur gewesen.

„Es wundert mich eigentlich“, sagte Kasperl zwischen zwei Happen, „dass Sie die Räuberei aufgeben wollen, Herr Hotzenplotz.“ – Hotzenplotz nahm einen Schluck aus der Sliwowitzflasche. „Natürlich hat der Beruf eines Räubers auch seine schönen Seiten. Die Waldluft hält einen jung und gesund; für Abwechslung ist gesorgt; und solange man nicht im Loch sitzt, führt man ein wildes und freies Leben, aber …“ An dieser Stelle legte er eine Pause ein und genehmigte sich einen weiteren Sliwowitz. „Kurz und gut: Auf die Dauer wird mir die Sache zu anstrengend. Nichts ist lästiger auf der Welt, als ständig den bösen Mann zu spielen! Immerzu Missetaten verüben zu müssen, auch wenn einem gar nicht danach zumute ist; immerzu Großmütter überfallen und Fahrräder klauen; und immerzu auf der Hut vor der Polizei sein. Das zehrt an den Kräften und sägt an den Nerven, glaubt mir das!“ (Hotzenplotz 3, S. 58 f.)

Nicht nur Krabat, auch Hotzenplotz steht für die Menschen jeder Generation, die sich durch die Faszination für das Böse von sich selbst entfremdet haben. Aber er kommt zur Einsicht, vernichtet sein Schießpulver und wirft die Messer in den Teich. Niemand, so Preußler, ist wirklich nur böse. Auch wer sich vorübergehend dem Übel verschrieben hat, kann diesen Weg wieder verlassen: Da gibt es nur einen Ausweg, den einzigen, den ich kenne: den festen Willen, sich davon [vom Bösen] frei zu machen, die Hilfe von treuen Freunden – und jene Hilfe, die einem aus der Kraft der Liebe erwächst, [anzunehmen.] (Geschichtenerzähler, S. 189)

Die treue Freundschaft besiegt das Böse schon am Ende des ersten Bandes. Die gute Fee Amaryllis und Kasperl helfen einander. So können sie beide aus der Gefangeschaft entkommen. Da fällt dem Zauberer sein Stab aus der Hand. Er stürzt in den Abgrund, den er selbst geschaffen hat. Dem geläuterten Räuber aber – vielleicht ist er doch so alt wie sein Schöpfer – seien weitere 100 Jahre vergönnt.

Literatur
Otfried Preußler, Der Räuber Hotzenplotz, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 2023
Otfried Preußler, Hotzenplotz 3, Stuttgart 1973
Otfried Preußler, Ich bin ein Geschichtenerzähler, Neuauflage, Stuttgart 2021

Links
Otfried Preußlers Geschichtenschatz, ein Autoreninterview, www.thienemann-esslinger.de
Schöpfer der „Kleinen Hexe“, Eine Rezension der Preußler Biographie von Tilman Streckelsen, SWR2
100. Geburtstag Otfried Preußler, BR-Fernsehen,
Otfried Preußler – Ich bin Krabat, Arte-Mediathek

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