„Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“ Platons Höhlengleichnis und Gedanken über Bildung

Horst Heller
Dieser Beitrag als PDF

Vor einigen Monaten saß ich in einem Konzertsaal und hörte eine mir wohlbekannte Sinfonie. Aber was war das? Der Dirigent leitete das Orchester mit befehlenden, ja aggressiven Bewegungen, die immer einen Moment zu spät kamen, als wolle er einen Takt korrigieren, der schon erklungen war. Die Instrumentalisten spielten ihren Part gekonnt, aber so wie sie wollten.

Ich spürte, wie ich begann, mir durch die Art der Aufführung die Freude an dem schönen Werk trüben zu lassen. Das wollte ich gerne verhindern. Ich schloss die Augen, verfolgte die Melodien der Komposition und versuchte, die Mängel der Darbietung zu überhören. Mit der Zeit gelang es mir. Mit den inneren Ohren hörte ich mehr und mehr das Original, besser: die Sinfonie, wie sie in meinen Ohren idealerweise klingen sollte. Als der Schlussakkord verklungen war, musste ich an Platons Höhlengleichnis denken und konnte ehrlichen Herzens applaudieren. Es war ein musikalischer Genuss geworden.

Seither begleitet mich das Höhlengleichnis des antiken griechischen Philosophen in den unterschiedlichsten Situationen. Es stammt aus Platons siebtem Buch seines Werkes „Der Staat“ und erzählt eine Geschichte.

Menschen verbringen ihr ganzes Leben sitzend und gefesselt in einer Höhle. Es ist ihnen nicht möglich sich zu bewegen, sie können sich nicht einmal umdrehen. So sehen sie nicht, dass in ihrem Rücken ein Feuer brennt, dessen flackerndes Licht auf die Wand vor ihnen fällt. Wird zwischen ihnen und dem Feuer ein Gegenstand vorbeigetragen, betrachten die Gefesselten aufmerksam dessen Schatten an der Wand vor sich. Die Gegenstände selbst bekommen sie nie zu Gesicht, auch nicht die Menschen, die sie tragen. Ebenso wissen sie nichts davon, dass diese Höhle einen Ausgang hat, durch den das Sonnenlicht einige Meter in die Höhle hineinscheint. Sie ahnen nichts von der Welt außerhalb der Höhle.

Das Leben im Dunkeln ist für die Menschen in der Höhle Realität. Wird hinter ihnen eine Statue entlang getragen, so halten sie deren Schatten für die Statue selbst, wird eine Küchengerätschaft vor das Feuer gestellt, so halten sie dessen Abbild für das Original. Sie haben eine Meisterschaft entwickelt, die Schatten zu benennen und zu beschreiben.

Eines Tages werden einem von ihnen die Fesseln abgenommen und er wird genötigt, aufzustehen, sich umzudrehen, sich dem Feuer zu nähern und die Gegenstände zu betrachten, von denen auch er bisher nur die Abbilder wahrgenommen hat. Ein Leben lang an das Halbdunkel gewöhnt, braucht er lange, bis seine Augen die neue Realität erkennen können. Dann entdeckt er sogar, dass die Höhle einen Ausgang hat. Als er gezwungen wird, sie für kurze Zeit ganz zu verlassen, sieht er das helle Tageslicht, die Sonne und den Mond. Als sich seine Augen an das gleißende Licht gewöhnen, genießt er von ganzem Herzen diese neue Welt.

Platon erzählt diese Geschichte als ein Gleichnis für Bildung. Der Mensch, der das Sonnenlicht gesehen hat – für ihn ist es der Philosoph – kehrt nun verwandelt in die Höhle zurück. Er wird sich wieder der Wand der Schatten zuwenden, aber er weiß nun, dass es sich bei ihnen um unvollkommene Abbilder handelt. Er wird von seiner Entdeckung erzählen. Aber kaum einer der noch gefesselten Menschen wird ihn verstehen.

Wie lebt der, der einmal die Sonne schauen durfte, fortan in der Welt der Schatten? Ist die Dunkelheit für ihn nun schwerer zu ertragen oder kann er beim Betrachten der zweidimensionalen Schatten die Originale imaginieren? Womit werden sich seine Gedanken mehr beschäftigen? Mit dem, was er sieht, oder mit dem Wahren und Schönen in seinem Kopf, das mehr als eine Erinnerung an Vergangenes ist? Ich entschied mich angesichts der unglücklichen Performance eines an sich wundervollen Musikstücks für Letzteres.

Was aber ist die Realität? Der österreichische Multimediakünstler (und mein Namensvetter) André Heller beantwortete diese Frage vor 50 Jahren mit einem Chanson:

Die wahren Abenteuer sind im Kopf – in meinem Kopf,
Und sind sie nicht in meinem Kopf, dann sind sie nirgendwo!
Die wahren Abenteuer sind im Kopf – in deinem Kopf,
Und sind sie nicht in deinem Kopf, dann suche sie!
Die wahren Abenteuer sind im Kopf – in euren Köpfen,
Und sind sie nicht in euren Köpfen, dann suchet sie!
Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid
und dreht sich stumm, und dreht sich stumm nach anderen Wirklichkeiten um!

Bildung ist nach Platon eine Reise zum Licht, ohne die Welt der Schatten ganz zu verlassen. André Heller nennt das eine Abendteuerreise. Bildung könnte eine Entdeckungsreise in unseren Köpfen sein. Diese Abenteuer der Bildung sind individuell und vielfältig. Je abenteuerlustiger wir im Geist sind, je besser wir imaginieren können, desto weniger lassen wir uns von vermeintlichen Unvollkommenheiten in die Verzweiflung treiben, desto mehr entdecken wir. Machen wir uns auf die Suche nach ihnen!

Platons Geschichte endet weit weniger zauberhaft verspielt, sondern im Gegenteil tragisch. Der „Sehende“, der Philosoph, der seinen Nachbarn von seinen Entdeckungen erzählt, findet kein Gehör. Sie halten ihn für verrückt, zumal er zunächst die Schatten an der Wand nur schemenhaft erkennen kann. Seine Augen müssen sich an die alte Dunkelheit wieder neu gewöhnen. Die, denen er Erkenntnis vermitteln will, schenken ihm keinen Glauben. Sie trachten sogar danach, ihn zu töten. Seine Erzählungen vom Licht machen ihre Dunkelheit nämlich nicht heller. Die missionarische Botschaft des Philosophen wirkt auf sie hochmütig und macht ihnen Angst.

Vielleicht werden sie anders reagieren, wenn sie spüren, dass er nach seiner Reise anders mit Schatten und Fesseln umzugehen vermag, wenn er ihnen wohlwollender und verständnisvoller als zuvor begegnet? Vielleicht weckt das eine Sehnsucht nach Licht, Farbe und Dreidimensionalität in ihnen. Vielleicht werden sie dann ihre eigenen Fesseln zu lösen versuchen und sich auch auf den Weg machen. Dann können auch sie mit ihrem ganz eigenen Bild vom Wahren, Schönen und Vollkommenen zurückkehren, diese Erkenntnisse mit dem Philosophen teilen und ihn ein weiteres Mal bereichern.

Die wahren Abenteuer sind im Kopf – in deinem Kopf,
Und sind sie nicht in deinem Kopf, dann suche sie!
Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid
und dreht sich stumm, und dreht sich stumm nach anderen Wirklichkeiten um!

Literatur
Wilhelm Blum, Höhlengleichnisse. Thema mit Variationen, Bielefeld 2004

Blogbeiträge zum Thema auf www.horstheller.de
09.08.2020: Noten im Religionsunterricht – Ein Dilemma? 16 Thesen
15.08.2021: „Nicht nur ethische Themen, bitte!“ Vier Megatrends und zwölf Zukunftsaufgaben des nachpandemischen Religionsunterrichts
06.02.2022: Reifeprüfung in der Cafeteria. Nachdenken über eine andere Abiturprüfung. Ein Gedankenexperiment und ein Plädoyer
22.05.2022: Diplomaten, Dolmetscher, Dialogpartner? Religionslehrkräfte und ihre kirchliche Bevollmächtigung. Wie ich es sehe.
26.02.2023: „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.“ Aspekte einer zeitgemäßen Schöpfungsdidaktik
04.05.2023: Mit weniger Prüfungen Leistung umfassender wahrnehmen. Gedanken zur Neuausrichtung der Leistungsbewertung in der Schule
04.06.2023: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“ Platons Höhlengleichnis und Gedanken zu Bildung


Hinterlasse einen Kommentar