Ist die Bibel ein Buch mit sieben Siegeln? Oder: Was ist die zentrale Message der Bibel?

Horst Heller
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Wer in der Bibel nach ihnen sucht, wird sie finden: Schilderungen von Gewalt, Rachepsalmen und Nationalismen. Abraham glaubt einen Moment, seinen einzigen Sohn töten zu müssen. Elia befiehlt ein Massaker, das letzte Buch der Bibel malt aus, was mit Ungläubigen geschieht. Wer aber nach liebenden Segensworten, nach Geschichten der Heilung, Versöhnung und Begeisterung Ausschau hält, wird auch sie entdecken. Sie finden sich in großer Zahl, zusammen mit Ermahnungen zu Solidarität und Nächstenliebe und gleich neben Worten Jesu über die Barmherzigkeit Gottes mit den Menschen.

Was gilt jetzt? Ist die Bibel ein Sammelbecken unterschiedlichster Theologien? Ein Buch mit sieben Siegeln? Nein, das glaube ich nicht. Und ich habe gute Gründe dafür.

Zentrum und Peripherie
Martin Luthers Schriften umfassen in der Weimarer Ausgabe fünf Regalmeter. In seinen Predigten, Briefen und Sendschreiben, Traktaten, Vorlesungen, Tischreden sowie in den sogenannten „Hauptschriften“ äußert sich Luther zu zahlreichen Themen seiner Zeit. Und doch ist in den Texten das Zentrum der Botschaft seines Lebens zu erkennen. Immer wieder lässt er erkennen, woran sein Herz hängt. Es bedarf keiner literaturwissenschaftlichen Ausbildung, um sein Hauptanliegen zu erkennen. Die kontinuierliche Lektüre seiner Schriften reicht aus.

So ist es auch in der Bibel. Es gibt einen Kern, um den sich alle Bücher der Bibel drehen. Einige Bibelbücher sind diesem Zentrum näher als andere, denn nicht alle Bibeltexte zielen gleichermaßen auf die „Mitte der Schrift“ (so hat die Theologie diesen Kern mal genannt). Einige Bibelbücher beschäftigen sich mit Fragen, die damals virulent waren, heute aber nicht mehr. Andere Bibelbücher betonen Inhalte, die (scheinbar oder tatsächlich) diesem Kern sogar widersprechen. Sie sind vom Zentrum weiter entfernt als andere.

Das Bild von Zentrum und Peripherie macht deutlich, dass Bibelbücher wie Planeten um ihre Sonne kreisen. Einige sind auf einer engen, andere auf einer weiten Umlaufbahn unterwegs.

Was ist das Zentrum?
Theologinnen und Theologen haben versucht, dieses Zentrum zu beschreiben. Es ist lohnend, den vier Solas von Martin Luther oder den Axiomen und Grundmotiven Gerd Theißens nachzuspüren. Aber vielleicht gibt es einen noch einfachere Lösung. Ich will sie beschreiben:

Ich frage mich, ob schon die Reihenfolge der biblischen Bücher des Neuen Testaments etwas aussagt, wie nahe oder wie fern sie dem Zentrum der biblischen Botschaft sind.

Ich gehe davon aus, dass das Neue Testament nicht zufällig seine jetzige Gestalt bekommen hat. Ich glaube vielmehr, dass seine 27 Bücher mit Bedacht ausgewählt und in eine bestimmte Reihenfolge gebracht worden sind.

Wenn das stimmt, beginnt das Neue Testament nicht ohne Grund mit den Erzählungen über Jesus. Erst dann folgen die Paulusbriefe, obwohl die meisten von ihnen früher verfasst wurden als die Evangelien. Dass der Römerbrief, keineswegs der älteste der Paulusbriefe, den Anfang macht, ist gewollt. Und dass sich schließlich der mysteriöse 2. Johannesbrief und die Apokalypse des Johannes, die Prophezeiung eines radikalisierten Propheten, ganz am Ende des Neuen Testaments finden, ist dann auch kein Zufall, sondern genau so gewollt.

Nehmen wir also mal an, dass die Reihenfolge der Bücher des Neuen Testamtens mit Bedacht festgelegt worden ist. Was folgt daraus?

Wer den Kern des Neuen Testaments herausfinden will, der könnte es lesen oder es sich (als Hörbuch) vorlesen lassen. Und am besten ganz vorne, bei den Evangelien, beginnen.

Hat sie oder er die ersten drei Bücher, die Evangelien nach Matthäus, nach Markus und nach Lukas, gelesen oder gehört, ist er in der Lage, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Dann wird sie oder er die Ausgangsfrage dieses Blogs zumindest vorläufig beantworten können.

Links und Literatur:
Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, Die vier Soli Martin Luthers.
Gerd Theißen, Zur Bibel motivieren, Gütersloh 2003

Dieser Blogbeitrag bereitet (auch) eine digitale Fortbildung im Format Relilab-Impuls vor.
Wie ist das Neue Testament entstanden? Mit dieser Frage hat sich der Neutestamentler David Trobisch beschäftigt und nun ein neues Buch vorgelegt. Er wird uns sein Modell zur Entstehungsgeschichte des NT vorstellen und darüber mit uns sprechen.

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