„Der christliche Glaube bewährt sich in gelebtem, erzähltem und erzählbarem Leben – oder er bewährt sich nicht.“ Wo bitte geht es zu einem mutigen, uneigennützigen und lebensnahen Religionsunterricht?

Horst Heller
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Unterricht in meiner 8. Klasse: Die Stunde beginnt. Während der Hinführung und der Motivationsphase sind noch alle Schülerinnen und Schüler beteiligt. Dann ist das Thema benannt, das Lehrbuch wird geöffnet. Die Bewegungen der Mädchen und Jungen werden langsamer. Ein Text wird gelesen. Einige Blicke wandern jetzt zum Fenster, in der letzten Reihe finden kurze Seitengespräche statt. Schließlich wird ein klassisches Unterrichtsgespräch eröffnet. Ich bemühe mich um klare Impulse und Denkaufgaben. Doch rechts sucht ein Mädchen etwas in ihrer Schultasche, die Jungs links lehnen sich zurück und überlassen es anderen, sich zu Wort zu melden. Es herrscht kein demonstratives Desinteresse, aber Leidenschaft für den Unterrichtsinhalt sieht anders aus. Ich kann auf die Mitarbeit einiger weniger zählen, aber die Mehrheit hält sich zurück, bleibt teilnahmslos oder wartet ab.

In meiner Klasse herrscht kein Desinteresse, aber Leidenschaft für den Unterrichtsinhalt sieht anders aus.

Doch dann die Wende. Ich sage: „Ich erzähle euch dazu eine Geschichte, die für meine Mutter ganz wichtig war.“ Plötzlich ist alles anders. Es wird ganz still, zwanzig Augenpaare richten sich auf mich, unvermittelt herrscht gespannte Erwartung. Ich erzähle ein Erlebnis meiner Mutter aus ihrer Zeit in Berlin, eine Geschichte, in der sie knapp einem Unglück entgangen war und wie sie in der folgenden Nacht in einem Traum das Erlebte verarbeitete.

Was hatte die Gleichgültigkeit vertrieben, woher rührte die neue Aufmerksamkeit? Meine Ankündigung hatte zwei Signale gesetzt. Ich wollte erzählen. Geschichten ziehen ihre Hörer unmittelbar in den Bann, sie sind einmalig, authentisch und anschaulich. Diese Geschichte versprach zudem, ein Fenster zum Leben des Lehrers zu öffnen, durch das die Klasse einen kleinen Blick in seine Welt werfen konnte. Meine Schülerinnen und Schüler spürten, dass das Erlebnis meiner Mutter offenbar auch für mich bedeutsam war. Das war Anlass genug, einen Moment aufmerksam zu sein.

Ähnliches habe ich oft erlebt. Wenn ich zeigen konnte, dass religiöse Überzeugungen und Haltungen mit konkretem Erleben zu tun haben können, signalisierten Schülerinnen und Schüler Interesse. Für einen Moment konnte ich mir die Aufmerksamkeit der gesamten Lerngruppe sichern. Nun ist eine sog. Richtungsanzeige eines evangelischen Think Tanks, genau: der Kammer für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend der Evangelischen Kirche in Deutschland erschienen. Ihr Titel „Religiöse Bildungsbiografien ermöglichen“ klang ähnlich langweilig wie das Unterrichtsgespräch meiner Stunde. Doch als ich blätterte, fand ich meine Erlebnisse reflektiert wieder. Empfiehlt das Büchlein doch, die Beobachtungen aus meiner Stunde zum didaktischen Prinzip zu machen. Im Unterricht sollten verstärkt Splitter religiöser Biografien zum Klingen kommen. Nur das erlebte Leben sei der Ort, an dem sich die Relevanz religiöser Inhalte zeigen könne.

Der christliche Glaube bewährt sich in gelebtem, erzähltem oder erzählbarem Leben – oder er bewährt sich nicht.

Die Veröffentlichung benennt zunächst die gesellschaftlichen Entwicklungen, die durch die Pandemie einen besonderen Schub bekommen haben:

  • die Individualisierung, die zu einer Vielfalt möglicher Lebensläufen und zu einer unübersichtlichen Pluralität der Weltanschauungen geführt hat,
  • die Digitalisierung, als Mediatisierung des privaten und beruflichen Lebens allgegenwärtig,
  • die Globalisierung (die Pandemie, die sich über den gesamten Globus verbreitet habe, sei ein Beispiel für die Überwindung von Schranken) und
  • (wenn auch nur implizit) die Säkularisierung, die Konfessionslosigkeit zu einem Kennzeichen der Normalbiografie gemacht habe oder machen werde.

Sie skizziert sodann die Konsequenzen für das Bildungshandeln aus evangelischer Sicht und regt eine Vernetzung aller Bildungsangebote von der Kita bis zu den Senioren an. Sie fordert die Bildungsverantwortlichen auf, die Lebensdeutungen Nichtglaubender als gleichwertige Anknüpfungspunkte anzusehen. Als Ziel nennt sie die Stärkung der Selbstwirksamkeit (Empowerment) der Lernenden jeden Alters. Die Deutungsangebote christlicher Religion könnten dabei Impulse und Anregungen sein. Die Aufgabe der Kirche und des Religionsunterricht beschreibt sie als Assistenz bei der religiösen Selbstsozialisation des Individuums.

Der Weg dahin – und nun wurde es für mich bedeutsam – führe über das Erzählen. Der Religionsunterricht dürfe narrativer werden. Das könne durch biblische Erzählungen, durch gute Literatur im Unterricht oder durch Alltagsgeschichten (wie in meiner Unterrichtsstunde) geschehen. Dazu bedürfe es keiner vorbildlichen Geschichten des Gelingens. Gerade Niederlagen und Zweifel, offene Fragen und unfertige Deutungen eigener Erlebnisse seien es wert, erzählt zu werden. Die Lehrperson habe nun die Aufgabe, das Erzählen religiöser Biografie-Elemente aus Interviews, Literatur, Bibel oder Kirchengeschichte in den Unterricht einzubringen und dürfe, ja möge auch selbst erzählen. Dann sei es ihre Aufgabe, die biografischen Zeugnisse mit der Lebenswelt der Lernenden zu verknüpfen.

Ich verstand: Als Lehrer sollte ich meine eigene Rolle erweitern. Ich war nun nicht mehr der Fachmann für religiöses Wissen, der dieses von Zeit zu Zeit mit eigenen Erfahrungen illustriert, sondern war als Mensch gefragt, der eigene religiöse Erfahrungen oder die andere Menschen in den Unterricht einbringt und zusammen mit den Schülerinnen und Schüler deutungsoffen reflektiert.

Ich erinnere mich an Lehrer meiner Jugendzeit, die es liebten, ihr tägliches Leben im Unterricht auszubreiten. Doch nicht jede Alltagsgeschichte hat einen didaktischen Wert. Ein Plappermaul ist noch kein guter Lehrer. Auch nicht jede biblische Überlieferung eignet sich für den Unterricht. Schließlich gelingt es auch nicht immer, über das Erzählen auf die großen Fragen des Lebens und des Glaubens zu sprechen zu kommen.

Nicht jede Geschichte hat einen didaktischen Wert und nicht jede biblische Überlieferung eignet sich für den Unterricht.

An den weiteren Verlauf der Unterrichtsstunde, in der aus gelangweilten Teenagern urplötzlich hochinteressierte Mädchen und Jungen wurden, kann ich mich übrigens nicht mehr erinnern. Ich weiß nicht mehr, ob ich die Chance des Augenblicks nutzen konnte. Aber nicht jede Unterrichtsstunde muss gelingen. Aber immer wieder soll die Überzeugung sichtbar werden, dass sich der christliche Glaube in gelebtem, erzähltem oder erzählbarem Leben bewähren kann.

Evangelische Kirche in Deutschland (EKD, Hg.): Religiöse Bildungsbiografien ermöglichen, Eine Richtungsanzeige der EKD für die Vernetzung evangelischer Bildung, Leipzig 2022

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