Es regnet in der Karawanserei. Warum ich meiner Kirche und meiner Religion trotzdem treu bleibe

Horst Heller (CC BY-SA 4.0)

„So lad’ ich über tausend, tausend Jahre sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen als ich und sprechen.“ (aus: Nathan der Weise)

Diesen Satz legte Gotthold Ephraim Lessing vor fast 250 Jahren dem jüdischen Kaufmann Nathan in den Mund. Wenn er den Beinamen „der Weise“ zurecht trägt, wird sich bewahrheiten, was er ankündigt: Es wird erst nach sehr vielen Generationen die Wahrheit über die Religionen offenbar werden. Wenn dieser Tag kommt, wird sich dann möglicherweise herausstellen, dass alle Religionen unvollkommene Abbilder der Wahrheit Gottes sind? Ist der echte Ring verloren gegangen? Nathans Ringparabel deutet diese Möglichkeit an.

Wenn die religiöse Wahrheit für Menschen wie mich also nicht zu erkennen ist, könnte ich dann – statt Christ zu bleiben – nicht ebenso Muslim, Jude oder Agnostiker werden?

Eine Antwort auf diese Frage gibt eine tausend Jahre alte Parabel aus Bagdad: Sie geht auf den Religionsgelehrten Abu Sulaiman zurück. Er vergleicht die Religionen mit schlecht gebauten Zimmern einer Karawanserei. Als Reisender ist er dort eingekehrt, um sich in der Hitze des Tages auszuruhen. Während er sich erholt, fängt es an zu regnen, und schon bald steht sein Zimmer unter Wasser. Ein Blick in die anderen Zimmer der Herberge zeigen ihm, dass es den anderen Reisenden in deren Zimmer aber nicht besser geht. Umziehen ist also keine Option. Sollte er vielleicht nach draußen gehen? Er blickt in den Innenhof und entschließt sich, zu bleiben, wo er ist.

Abu Sulaiman, Das Gleichnis von der Karawanserei. Bleibe in deiner religiösen Heimat!
Ich bin einem Manne gleich, der in eine Karawanserei hineinging, um dort, bei strahlendem Himmel, eine Weile des Tages Schatten zu suchen. Der Herr der Karawanserei brachte ihn in eines der Zimmer, ohne aber sich weiter zu erkundigen oder sichere Kenntnis zu haben, ob dies ihm passe. Während er nun dort sich aufhielt, … da kam eine Wolke auf und es goss vom Himmel. Im Zimmer begann es zu tropfen und er schaute sich um nach den anderen Zimmern, die in dem Absteigequartier waren. Aber er sah, dass es auch in ihnen durchregnete. Der Hof des Hauses jedoch war, so sah er, von Schlamm bedeckt.

Da dachte er bei sich, dass es besser sei, dort zu bleiben, wo er war, und nicht in ein anderes Zimmer umzuziehen; so würde er seine Ruhe haben und seine Füße nicht mit dem Schlamm und dem Kot im Hof beschmutzen. Er entschied sich dafür, in seinem Zimmer auszuharren und in seiner Lage zu verweilen.

So auch ich: Ich wurde geboren, ohne Verstand zu besitzen; dann brachten mich meine Eltern in diese Religion hinein, ohne dass ich diese vorher hätte erproben können. Und als ich sie näher prüfte, da sah ich, dass sie vorgeht wie die andern auch, und ich sah, dass es mir besser anstünde, bei ihr auszuharren, als sie im Stich zu lassen; denn ich hätte sie nur aufgeben und mich für eine andere entscheiden können, indem ich [sie] der ersteren vorzog. Ich fand aber für jene kein Argument, ohne nicht sofort ein gleiches zu finden, das eine andere ihr hätte entgegenhalten können.

Abu Sulaiman al-Chattabi, Bagdad, 931-998), zitiert nach K-J. Kuschel, Literarische Genese der Ringparabeln, in: H. Küng, K.-J. Kuschel, A. Riklin, Die Ringparabel und das Projekt Weltethos, 2/2010, S. 59 f.

Abu Sulaiman war Händler und Schriftsteller. Er wurde in Afghanistan geboren und lebte in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts lange in Bagdad. Als Kaufmann bereiste er den gesamten arabischen Orient. Seine Parabel von der Karawanserei ist nicht schwer zu verstehen, denn er hilft uns, sie zu deuten.

Für seine Religion hat er sich nicht frei entschieden. Kultur, Tradition und Erziehung haben früh Weichen in seinem Leben gestellt. Nun aber ist er erwachsen. Er vergleicht seine Religion mit einem Zimmer, durch dessen Decke und Fenster der Regen dringt. Die Mängel seines Glaubens sind für ihn unübersehbar. Deshalb nimmt er sich die Freiheit, über eine Konversion nachzudenken. Dazu besieht er sich die anderen Glaubensrichtungen und entdeckt, dass den Schwächen seiner Religion ähnliche Mängel der anderen Religionen gegenüberstehen.

Er entschließt sich, seiner religiösen Heimat treu zu bleiben. Dazu ermutigt ihn nicht zuletzt ein Blick aus der Tür seines Zimmers. Der Innenhof, ein Bild für das Leben ohne Religion, ist voller Schlamm: die schlechtere Wahl! Ohne Religion käme er „vom Regen in die Traufe.“

Ein religionsloses Leben. Die tausend Jahre alte Parabel bedenkt sogar diese Option – und verwirft sie. Meine Religion, so denke auch ich, mag unvollkommen sein. Meine evangelische Kirche ist definitiv unvollkommen. Aber beide sind sie Heimat und das „kleinere Übel“ gegenüber atheistischen oder agnostischen Philosophien.

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