
Von Franz von Assisi sind zwei Schriftstücke erhalten, die er von eigener Hand verfasst hat. Eines davon ist ein kurzes seelsorgerliches Schreiben an seinen Ordensbruder Leo. Das Pergament in der Größe einer Postkarte habe ich im Dom von Spoleto in Umbrien entdeckt. Wer war dieser Leo? Und warum ist dieser Brief erhalten geblieben?
Frater Leo frater Francisco tuo salutem et pacem. Ita dico tibi fili mei sicut mater quia omnia verba quae diximus in via breviter in hoc verba dispono et consilio et si dopo oportet propter consilium venire ad me quia ita consilio tibi. In quocumque modo melius videtur tibi placere Domino Deo et sequi vestigiam et paupertatem suam faciatis cum beneditione Domini Dei et mea obedientia. Et si tibi est necessarium animam tuam propter aliam consolationem tua et vis Leo venire ad me veni.
Bruder Leo, dein Bruder Franziskus wünscht dir Heil und Frieden. So sage ich dir, mein Sohn, wie eine Mutter, weil ich alle Worte, die wir auf dem Wege gesprochen haben, kurz in diesem Wort zusammenfasse und dir einen Rat geben, auch wenn du danach doch zu mir kommen musst. So rate ich dir: Auf welche Weise auch immer es dir besser erscheint, Gott, dem Herrn, zu gefallen und seinen Fußspuren und seiner Armut zu folgen, so tut es mit dem Segen Gottes, des Herrn, und im Gehorsam gegenüber mir. Und wenn es dir notwendig erscheint, um deiner Seele willen oder um getröstet zu werden, zu mir zu kommen, und wenn du zu mir kommen willst, Leo, dann komme!
Wer war Bruder Leo?
Leo gehörte zu den engsten Vertrauten des Ordensgründers, die Überlieferung beschreibt ihn als einen ehrlichen und frommen Mann aus Assisi, mindestens ein Jahrzehnt jünger als Franziskus. Wahrscheinlich war er (anders als dieser) ein Priester, sprach und schrieb in fehlerfreiem Latein und war gebildet. Schon als Franziskus im Jahre 1209 zu Papst Innozenz gepilgert war, war Leo an seiner Seite gewesen. Er wurde sein Vertrauter, fungierte als sein Sekretär und Beichtvater. Legenden erzählen, dass er auch dem sterbenden Franziskus beistand. Nach dessen Tod wurde er einer seiner ersten Biografen.
Fast sein Leben lang hatte er also an der Seite seines spirituellen Meisters gelebt, doch diesem Brief ist zu entnehmen, dass beide getrennt waren. Das lässt darauf schließen, dass das undatierte Schreiben aus der Zeit stammt, als Franziskus aus dem Orient zurückgekehrt war und die Leitung des Ordens in die Hände von Pietro Catanii gelegt hatte. Es war ihm nicht gelungen, den Streit in seinem Orden zu schlichten und die Brüder auf ein Leben in vollkommener Armut zu verpflichten. Er zog sich in die Einsiedelei Fonte Colombo bei Rieti, etwa 100 km südlich von Assisi, zurück. Hier lebte Franziskus erstmalig ohne seine Gefährten. Es wird erzählt, dass er selbst unter dieser Trennung gelitten habe. Aber auch Leo vermisste seinen Mentor, durchlebte möglicherweise eine persönliche Krise und hatte ihn um Rat gefragt.
Was schreibt Franziskus?
Franziskus antwortet seinem treusten Gefährten mit einen persönlichen Brief, der nur 83 Worte enthält. In ungeschliffenen Worten und mit eigener Hand teilt er ihm ein Dreifaches mit: Er erinnert ihn an das franziskanische Ideal, die Essenz aller ihrer Gespräche: dass er den Fußspuren Jesu Christi in Armut nachfolgen solle. Wie er dies tun wolle, könne er aber selbst entscheiden. Er dürfe sehr gern auch zu ihm kommen, er wisse ja selbst am besten, auf welchem Weg er Gott die größere Ehre geben könne. Eine Bedingung aber notiert er für ihn: Das alles müsse im Gehorsam gegen ihn, Franziskus, erfolgen.
Muss Bruder Leo an die klösterliche Regel des Gehorsams erinnert werden?
Die Pflicht zum Gehorsam ist für Ordensleute eine Selbstverständlichkeit. Warum wird sie in diesem Brief eigens erwähnt? Wenn die Annahme stimmt, dass Franziskus diesen Brief schrieb, als er sich bereits aus der Leitung des Ordens zurückgezogen hatte und als Einsiedler lebte, war Leo in erster Linie dem neuen Vorsteher Pietro Catanii untergeben, nicht aber Franziskus. Diesem gehorsam zu sein, konnte bedeuten, jenem ungehorsam zu sein, dem immerhin Franziskus selbst Gehorsam gelobt hatte. Angesichts des Streits um die Ausrichtung des Ordens ist das durchaus von Belang: Die Aufforderung „Wenn du zu mir kommen willst, Leo, dann komm!“ konnte bedeuten, dass er es ihm freistellte, gleichfalls die Gemeinschaft der Brüder zu verlassen und sich ihm anzuschließen. Die Loyalität gegenüber über Franziskus verpflichtete Leo also zum Ungehorsam gegenüber dem neuen Vorstand, falls der die ursprüngliche Regel verändern würde.
Dass diese Deutung des Briefes nicht abwegig ist, zeigt der Fortgang der Ereignisse. Ab dem Jahr 1220 bis zum Tod des Franziskus lebte Leo mit Franziskus in Fonte Colombo und arbeitete dort mit ihm an der von der Kurie geforderten neuen Ordensregel. Es ist also gut möglich, dass er nach Empfang dieses Briefes das Angebot annahm, zu seinem Meister zu reisen. Jedenfalls bewahrte er das Schreiben des Franziskus ein Leben lang eingenäht in seinem Habit auf.
Die Basilika, deren Bau Franziskus nicht gewünscht hätte
Nach dem Tod des Ordensgründers trat der Streit über die Ausrichtung des Ordens in aller Schärfe zutage. Pietro Catanii war bereits 1221 gestorben und die Geschicke des schnell wachsenden Ordens lagen nun in den Händen von Elias von Cortona, wie Leo einer der Brüder der frühen Jahre. Der neue Vorsteher legte die Klosterregeln weniger streng aus. Leo empfand das als Abkehr vom Weg der Armut, auf den Franziskus ihn selbst und alle seine Nachfolger verpflichtet hatte. Er widersetzte sich auch mit Vehemenz den Bestrebungen des Elias, in Assisi eine Basilika zu Ehren des Franziskus zu bauen. Doch der mächtige Kardinal Ugolino (und spätere Papst Gregor IX.) unterstützte und förderte das Vorhaben nach Kräften. So entstand in der Heimatstadt von Franziskus, Leo und Elias eine prächtige Doppelkirche, die bis zum heutigen Tag viele Millionen Besucher anzieht.
Eine weitere Legende erzählt, dass Leo eine von Elias aufgestellte Marmorkiste, in der Spenden für die Pilgerstätte gesammelt wurden, gewaltsam zerstörte. Dafür ließ ihn Elias auspeitschen, eine unter Franziskanerbrüdern eigentlich unvorstellbare Maßnahme. Leo zog sich nun zurück, ohne seinen Widerstand gegen den Bau aufzugeben. Er starb hochbetagt in der kleinen Kirche Porziuncola in der Ebene vor Assisi, in der Franziskus seine ersten Gefährten versammelt hatte. Er hatte das Vorbild seines Lebens um mehr als 40 Jahre überlebt. Seine sterblichen Überreste wurden in der Basilika bestattet, deren Bau er ein halbes Leben lang bekämpft hatte.
Bis zu seinem Tod verstand Leo den Brief des Franziskus als Auftrag, dem – wie er fand – falschen Weg seiner Ordensgemeinschaft zu widersprechen. Aus der Forderung des Gehorsams gegen Franziskus las er den Auftrag zum Ungehorsam gegen geistliche Vorgesetzte, die dem Evangelium zuwiderhandelten. So blieb der kleine Brief mit großer Wirkungsgeschichte erhalten. Er wurde zur Reliquie und erinnert bis heute an eine wahrhaft evangelische Geschichte.



Weiterführende Links
La benedizione di S. Francesco anche per te, https://www.vocazionefrancescana.org/2015/01/la-benedizione-di-s-francesco-anche-per.html
Die Suche nach dem historischen Franziskus, https://www.deutschlandfunk.de/die-suche-nach-dem-historischen-franziskus-102.html
Leone Frate Minore, http://www.santiebeati.it/dettaglio/993
Leone d’Assisi (Leone da Viterbo), https://www.treccani.it/enciclopedia/leone-d-assisi_%28Dizionario-Biografico%29/
Bruder Peter Fobes, Brief und Segen an Bruder Leo. Wenn es dir gut tut, dann komm! https://franziskaner.net/bruder-leo/
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