Benedikt und andere Heilige – eine evangelisch-religionspädagogische Überlegung

Horst Heller CC BY-SA 4.0
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Klosterhof der Abtei Montecassino

Neulich, im italienischen Montecassino, eine gute Stunde südöstlich von Rom: Ich besichtige das Kloster, das Museum und die Kirche des Benedikt von Nursia. Es wurde im 6. Jahrhundert auf den Überresten eines Apollotempels erbaut. Zusammen mit seiner Zwillingsschwester Scholastika, ebenfalls eine Ordensfrau, begrüßt der Ordensgründer die Besucher bereits im Innenhof. Alles in diesem Gebäudekomplex ist auf den Heiligen mit dem langen Bart zugeschnitten, selbst die Kirche an der höchsten Stelle des Geländes, in der die Gläubigen zu Gott und Christus beten. In der Krypta findet sich das Grab der Geschwister. Der Zutritt ist allerdings nur denen gestattet, die dort beten wollen, wie ein Hinweis am oberen Ende der Treppe deutlich macht. Ich bin protestantisch, gehe aber trotzdem hinunter.

Neben dem in Goldtönen gestalteten Grabmal sehe ich Statuen von heiligen Personen an allen vier Wänden. In einem evangelischen Gotteshaus gäbe es das nicht, denke ich. In den Kirchen der Reformation wird der Blick auf Christus oder die Kanzel gelenkt, Heiligendarstellungen sind dort sehr selten, allenfalls finden sich biblische Figuren in den Kirchenfenstern. Martin Luther, der mit der schweren Bibel in beiden Händen die Kirchgänger begrüßt, macht da eine Ausnahme. Katholiken rufen Heilige an, Evangelische nicht.

Stimmt nicht, sagt mein katholischer Kollege Stefan. Die Verehrung der Heiligen ist auch für Katholiken keine Pflicht, sondern ein Angebot. In der Konfirmandenzeit habe ich außerdem gelernt, dass Martin Luther die Heiligenverehrung keineswegs abschaffte. Er kritisierte aber die Erwartung, sie würden bei Gott für uns Lebende ein gutes Wort einlegen. Auch die Kultur der Wallfahrten und die Verehrung der sterblichen Überreste der Seligen und Heiligen lehnte er ab.

Welche Rolle spielen die Heiligen heute? Ich denke an meine Religionsklasse und gehe in Gedanken die Namen der Kinder durch. Fünfzehn von ihnen tragen „heilige“ Namen. Da ist Clara. Ihr Name erinnert an Chiara von Assisi, eine Zeitlang Wegbegleiterin des Franziskus und später Äbtissin des nach ihr benannten Ordens der Klarissen. Ihr Todestag – auch ihr Gedenktag – ist der 12. August des Jahres 1253. Auf der anderen Seite des Gangs sitzt Jonas. Den Namen dieses biblischen Propheten, der nach Ninive gesandt worden war, trug auch ein persischer Mönch, der 326 hingerichtet wurde, weil er sich weigerte, Sonne und Mond sowie Feuer und Wasser anzubeten. Sein Gedenktag ist der 29. März.

Neben Jonas sitzt Henri. Der Ökumenische Heiligenkalender kennt gleich mehrere Heilige mit Namen Heinrich, Enrico oder Henrik, einer von ihnen war sogar ein deutscher Kaiser. Hinter Henri ihm sitzt Aaron, der den Namen des Bruders des Propheten Mose trägt. Neben ihm ist der Platz von Michael, dessen Namen an einen der Erzengel erinnert. Leni trägt den Namen der Maria Magdalena in Kurzform, auch Paula und Matthias, Luca und Sophia haben Heiligennamen. Nur zwei Kinder der Lerngruppe würden ihren Vornamen vergeblich im Heiligenkalender suchen.

Sollten evangelische Kinder und Jugendliche nicht auch lernen dürfen, welche prominente biblische oder kirchengeschichtliche Person ihren Namen trug? Eine Recherche im Ökumenischen Heiligenkalender bringt Erstaunliches ans Licht. Am Ende kennen die Schülerinnen und Schüler die Geschichte, die von „ihrem“ Heiligen erzählt wird. Sie können ihren Namenstag nennen und wissen, was an diesem Tag (der Legende nach) geschehen ist. Nicht immer ist das Recherchierte für das Leben der Kinder und Jugendlichen unmittelbar bedeutsam, aber es lohnt sich, nicht zu früh aufzugeben.

Zurück im Kloster Montecassino. Benedikt und Scholastika sind nicht die einzigen Heiligen, denen ich dort begegne. Eine Verehrung heiliger Menschen gab es schon lange vor der Grundsteinlegung dieser Abtei. Menschen, die besonders mildtätig waren, die ihrem Gewissen folgten und heidnische Kaiseropfer verweigerten, die ihren Glauben mit einer Vertreibung oder gar mit dem Tod bezahlten, wurden als Märtyrer von ihrer Gemeinde verehrt, ohne dass es einer offiziellen Heiligsprechung bedurft hätte.

Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit Verstorbene heute von der katholischen Kirche kanonisiert, das heißt als Selige oder Heilige anerkannt werden? Das mag kirchenrechtlich und historisch interessant ist, für die religiöse Bildung der Lernenden, so wie ich sie verstehe, ist es unwichtig. Religionspädagogisch ist eher ein weites Verständnis des Wortes „Heilige“ zu empfehlen, welches sich nicht auf die von der katholischen Kirche anerkannten Heiligen beschränkt. Auch Dietrich Bonhoeffer, Philipp Melanchthon, Desmond Tutu, Wibrandis Rosenblatt oder Sophie Scholl kommen in Frage. In einem erweiterten Sinn ist auch zu fragen, ob auch nichtchristliche Denker wie Mahatma Gandhi oder Philosophinnen wie Hannah Ahrendt so inspirieren können, wie es Heilige tun.

Für ein weites Verständnis des Begriffes spricht auch der biblische Befund. Paulus grüßt in seinen Briefen „alle Heiligen“ und meint damit die Mitglieder der Gemeinden, die er besucht hat. Dass nur einige wenige Mönche, Nonnen, Witwen, Einsiedler und fromme Herrscher Heilige seien, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Denn eigentlich ist Gott allein heilig. Sollten Menschen oder Orte ebenfalls heilig sind, dann weil Gott sie geheiligt hat.

Im Shop der benediktinischen Erzabtei finde ich neben Büchern zur Person des Klostergründers und zu dessen Geschichte auch Heiligenbilder aus allen Jahrhunderten und in allen Variationen: als Postkarten, als Kühlschrankmagneten, als kleine Hausaltäre mit Kerzen, ja sogar als Verpackung für Gewürze, Seifen und Gebäck. Es muss ein Bedürfnis nach spirituellen Bildern und Geschichten geben. Der bilderarme evangelische Gottesdienst erfüllt diesen Wunsch für viele nicht. Er spricht oft rational, abstrakt und wenig emotional von Gott. Um Trost oder Hoffnung zu finden, sind offenbar Darstellungen und Legenden nötig.

Als ich das Kloster verlasse, habe ich verstanden: Heilige und Heiligengeschichten können vielen das Göttliche näherbringen. Die Distanz evangelischer Christen – auch die meine – gegenüber der Kultur der Heiligenverehrung ist theologisch erklärbar. Aber die konfessionelle Kontroverse vergangener Jahrhunderte zu unterrichten ist einigermaßen fruchtlos. Wodurc hMenschen getröstet, inspiriert oder gestärkt werden, habe ich nicht zu entscheiden.

Ich habe religionspädagogisch also zwischen Vorbildlernen und Verehrung zu unterscheiden. Vorbildlernen beschäftigt sich mit dem gelebten Leben eines vielleicht unvollkommenen Menschen. Er muss nicht berühmt sein und lebt vielleicht noch. Vorbildlernen will viel über die Geschichte dieser Person herausfinden, was sie wann getan hat und wie sie es begründet hat. Aspekte ihres Lebens können mir zum Wegweiser werden. Was ich an ihr vorbildhaft wahrnehme, kann ich in ein (digitales) Tagebuch oder ein (analoges) Poesiealbum schreiben.

Etwas anderes ist die spirituelle Dimension von Personen, Legenden und Bildern. Sie können emotional stabilisieren und die eigenen mentalen Ressourcen stärken. Dazu muss ich nur wenig über das Leben des Heiligen erfahren. Es reicht eine Legende. Sie wird zu einer zeitlosen Geschichte und verbindet sich mit eigenen innerlichen oder äußerlichen Erlebnissen. Selbst eine Figur wie der Erzengel Michael, kein leibhaftiger Mensch, kann Stärke schenken, die ich in der Krise brauche. Wenn sich eine Gemeinschaft entscheidet, einen Heiligen oder eine Heilige – im allerweitesten Sinn dieses Wortes – zu verehren, dann kann sie eine Schule, eine Straße oder ein Fußballstadion nach ihr benennen.

Der schulische Ort für das Vorbildlernen ist der Unterricht, der Ort für die Entdeckung heiliger, d. h. spiritueller Dimensionen ist dessen Unterbrechung in stillen und performativen Phasen, Ritualen und Gottesdiensten. Hier erklären und erforschen wir einmal nichts, hier lassen wir Geschichten, Bilder – ja, auch Heilige oder deren moderne Äquivalente – auf uns wirken und schauen, ob sie zu uns sprechen.

https://www.heiligenlexikon.de/

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