Die wohltuende Kraft des Rings. Die Wahrheit der Religionen zeigt sich an ihrer Friedfertigkeit

Horst Heller
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„Ein Vater, der drei Söhne hatte, besaß einen Ring mit einem sehr wertvollen Edelstein von so großer Kraft, wie es keinen andern je gegeben hat. Jeder der drei Söhne bat seinen Vater, ihm nach seinem Tode den Ring zu vermachen.

Wir kennen diese Geschichte. Sie ist die Exposition eines Gleichnisses, das den schönen Namen Ringparabel trägt. Sie handelt von einem Vater, seinen drei Söhnen und einem kostbaren Ring. Die drei Brüder stehen für die drei Religionen, die auf Abraham zurückgehen: das Judentum, das Christentum und der Islam. Viele wissen, wie die Erzählung weitergeht, denn sie ist bekannt geworden durch Gotthold Ephraim Lessing, der sie in sein letztes großes Werk, den Nathan der Weise, einbaute. Aber die Ringparabel ist viel älter. Sie kursierte bereits im Mittelalter. Aus dem Florenz der Renaissance existieren allein zwei Fassungen. Die Sammlung Il Novellino („Buch der hundert Novellen“) erzählt die Geschichte so:

„Als der Vater sah, dass jeder der drei Söhne diesen Ring wollte, schickte er nach einem Goldschmied und gab ihm den Auftrag: ‚Meister, mache mir zwei Ringe, genau wie diesen, und setze jedem einen Edelstein ein, der diesem ähnlich ist.‘ Der Goldschmied machte die Ringe so ähnlich, dass niemand außer dem Vater den echten erkennen konnte. Er ließ die Söhne einzeln zu sich kommen und gab jedem insgeheim einen Ring. Und jeder glaubte, den richtigen zu haben, und nur der Vater kannte den echten.“
Anonymus, Novelle Nr. 73, aus: Il Novellino, Florenz, zwischen 1280 und 1300

Drei Ringe, drei Religionen. Sie sind einander zum Verwechseln ähnlich. Die Söhne, die den Ring tragen, können das Original nicht von der Kopie unterscheiden. In der Tat: Die Unterschiede zwischen den drei monotheistischen Religionen sind gering. Erst kulturelle und konfessionelle Prägungen, nationalistische Streitfragen und politische Ideologien verfälschen das Bild.

Aber noch etwas erstaunt in dieser 750 Jahre alten Geschichte: Alle Menschen dürfen sich als Töchter und Söhne des einen Gottes empfinden. Hätte der Vater nur einen Sohn gewollt, hätte er nur einen gezeugt. Die Ringparabel betont: Gott wollte die Vielfalt der Religionen, hat sie zumindest in Kauf genommen. Was bedeutet das für die Wahrheitsfrage. Die Antwort der Novelle: Das weiß nur Gott. In einer katholischen Stadt des späten 13. Jahrhunderts wird es für möglich gehalten, dass der „christliche Sohn“ nicht den echten Ring erhalten haben könnte. Juden, Christen und Muslime sind Sucher nach der Wahrheit, die Gott allein kennt.

„Und so ist es mit dem rechten Glauben: Nur der Vater im Himmel weiß, welcher von den dreien der richtige ist; und seine Söhne, das heißt wir, glauben jeder für sich, den richtigen zu haben.“


Zwei Generation später, noch immer in Florenz: Giovanni Boccaccio, einer der großen Schriftsteller seiner Zeit, erzählt die Ringparabel ein weiteres Mal. Sie ist Teil seines Hauptwerks Il Decamerone (Das Buch der zehn Tage), das bis ins 19. Jahrhundert immer wieder zensiert wurde. Seine Version der Ringparabel enthält zwei neue Akzente. Schon der erste ist unglaublich modern: Als der Vater die Ringe an seine Söhne gibt, kann er den echten von den Duplikaten kaum selbst unterscheiden.

Der Vater liebte seine Söhne alle gleich. So versprach er denn den Ring einem jeden von ihnen. … So ließ er heimlich von einem geschickten Meister zwei andere Ringe fertigen, die dem ersten so ähnlich waren, dass er selbst, der doch den Auftrag gegeben hatte, den rechten kaum zu erkennen wusste. Als er auf dem Totenbette lag, gab er heimlich jedem der Söhne einen von den Ringen.
Giovanni Boccaccio, 1313-1375, Die dritte Geschichte des ersten Tages: Aus: Il Decamerone, Florenz, nach 1351

Aus Liebe zu seinen Kindern verzichtet Gott darauf, den echten Ring zu kennzeichnen. Wie sollen nun Menschen herausfinden, welche Religion die von Gott offenbarten Wahrheiten enthält, wenn der Allmächtige es selbst kaum mehr weiß?

War schon Il Novellino ein mutiges Werk, so ist Boccaccios Novelle für ihre Zeit revolutionär: Gott liebt die Christen, Juden und Muslime gleichermaßen. Die Liebe zu seinen Geschöpfen ist ihm wichtiger als die religiöse Wahrheit. Ein Rangstreit der Religionen passt nicht zu der Liebe Gottes.


Was konnte Gotthold Ephraim Lessing in seiner berühmten Ringparabel Jahrhunderte später dem noch hinzufügen? Er arbeitete 1778 in seinen Nathan, ein „Dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen“ zwei weiteren Pointen ein. Es war ihm nicht genug, „nur“ für ein Ende der religiösen Streitigkeiten zu werben. Dazu gab er der Erzählung einen anderen Schluss. Denn dieses Mal beschuldigen die Brüder einander des Betrugs. Vor Gericht wollen sie klären lassen, welches der echte Ring ist. Die Antwort des Richters überrascht sie alle drei:

„Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft, beliebt zu machen, vor Gott und Menschen angenehm. Das muss entscheiden! Denn die falschen Ringe werden das doch nicht können. Nun: wen lieben zwei von euch am meisten? Ihr schweigt? … Jeder liebt sich selber nur am meisten?“
Aus der „Ringparabel“, in: Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, III/7, 1778

Wenn der echte Ring bewirkt, dass sein Besitzer von den Menschen besonders geehrt wird, dann müsste sich doch einer der Söhne von den beiden anderen unterscheiden! Nun aber stehen alle drei voller Misstrauen vor dem Richter. Entfaltet keiner der Ringe seine wohltuende Wunderkraft? Dann könnten die Geschenke des Vaters allesamt nur Duplikate sein.

„O so seid ihr alle drei betrogene Betrüger. Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren ….“

Damit redet er nicht dem Agnostizismus das Wort. Seine Skepsis soll vielmehr einen Wettstreit um das Gute befördern. Wer sich im Besitz der wahren Religion glaubt, der soll das durch gutes Handeln unter Beweis stellen. An die Stelle des Streits um die Wahrheit muss nun der Wettstreit um das Gute treten.

„Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hilf‘!“


Lessings Aufforderung hat ist nicht ohne Wirkung geblieben. Die Frage nach der wahren Religion wird heute anders gestellt. Auch wenn wir in unserer Religion beheimatet sind, spüren wir doch, dass auch andere Religionen Wahrheiten und Weisheiten enthalten. Dennoch hat die Mahnung, einander mit Barmherzigkeit, Sanftmut und Friedensfähigkeit zu übertreffen, bis heute Charme. Wir dürfen uns fragen, ob die Religionen diese Herausforderung angenommen haben

In 1000 Jahren, so sagt der Richter in Lessings Natan, werde ein wahrhaft Weiser auf dem Richterstuhl sitzen und die Kraft der Religionen beurteilen. Haben sie Gutes bewirkt? Seit Gotthold Ephraim Lessings Nathan sind fast 250 Jahre vergangen. Dass eine der drei abrahamischen Religionen diesen Wettkampf bereits für sich entschieden hat, darf bezweifelt werden.

K-J. Kuschel, Literarische Genese der Ringparabeln, in: H. Küng, K.-J. Kuschel, A. Riklin, Die Ringparabel und das Projekt Weltethos, 2/2010
Horst Heller: Vom Streit zum Wettstreit. Sechs narrative Texte zur Frage der religiösen Wahrheit und Toleranz. https://my.relilab.org

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