Gaza, Antisemitismus und ein Lied ohne Worte. Sieben Gedanken für die Praxis von Schule und Religionsunterricht

Horst Heller
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1. Das Leid ist riesengroß. Auf beiden Seiten.
Es ist so groß, dass Schülerinnen und Schüler, ja möglicherweise die ganze Schule Anteilnahme zeigen wollen. Dafür wird immer Raum sein. Eine politische Bewertung wird aber bruchstückhaft blieben und unerlaubt vereinfachen. Was den Terrorismus der Hamas verursacht hat, in welcher Weise angemessen darauf zu reagieren ist, wer in der kriegerischen Auseinandersetzung im Recht ist und wie sich die deutsche und europäische Politik verhalten soll, will dieser Blogbeitrag nicht darlegen. Auch der Unterricht ist hier schnell überfordert. Sollten politische Diskussionen in der Schule aber nötig sein, empfehle ich die Maxime: Kluge Menschen suchen nicht nach Schuldigen, sondern nach Lösungen.

Jüngere Schülerinnen und Schüler ängstigen sich angesichts der medialen Darstellung von Gewalt. Die politischen Hintergründe verstehen sie nicht. Ihnen die Hintergründe des Konflikts zu erklären, ist nur empfehlenswert, wenn sie selbst danach fragen. Ich verweise ich auf meinen Blogbeitrag vom 28. Februar 2022

2. Der Krieg um Gaza ist kein religiöser Konflikt.
Dieser Krieg ist ein Kampf um Land. Hier kämpfen nicht das Judentum gegen den Islam, auch nicht umgekehrt. Wir wissen aber: Nationalismen sind ein Treibstoff für Gewalt. Wenn Völker Landkonflikte nicht friedlich lösen konnten, führte das oft in eine Katastrophe, so auch gegenwärtig im Nahen Osten. Aus diesem Grund rate ich von der Verwendung nationaler Symbole in der Schule ab, auch nicht als Zeichen der Solidarität. So sinnvoll es sicher war, die Flagge des Staates Israel auf das Brandenburger Tor zu projizieren, um eine politische Botschaft auszusenden, so problematisch können nationale Symbole in der Schule wirken. Schnell stehen sie statt für Anteilnahme für Parteinahme, fordern Widerspruch heraus und spalten.

In einem Blogbeitrag vom 25. Februar 2022 hatte ich angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dies ausführlicher begründet.

3. Antisemitismus bei uns zeigt, dass etwas in unserer Gesellschaft nicht stimmt.
Antisemitisch handelt nicht nur Hamas, Antisemitismus gab und gibt es auch in unserer Gesellschaft. Er zeigt sich (auch) darin, dass Jüdinnen und Juden, die in Deutschland leben und deutsche Staatsbürger sind, wegen der Politik des Staates Israel angefeindet werden. Dass jüdische Menschen in unserer Nähe gegenwärtig in großer Sorge um ihre Sicherheit sind, darf eine demokratische Gesellschaft und natürlich auch die Schule nicht hinnehmen.

4. „Nie wieder!“
Bevor vorschnell auf die Unterschiede zwischen dem politischen und gewaltsamen Antisemitismus der Hamas und dem der deutschen und europäischen Gegenwart verwiesen wird, sei daran erinnert, dass der deutsche Antisemitismus vor 80 Jahren das Verbrechen der Shoa angerichtet hat. Die Kirchen der 1940er Jahre haben dazu weitgehend geschwiegen. Einer der Gründe dafür ist, dass es in der langen Geschichte Deutschlands einschließlich der Geschichte der Kirchen, einen theologisch begründeten Antisemitismus gab.

In dem genannten Blogbeitrag habe ich dafür plädiert, auch den kirchlichen Antisemitismus vergangener Jahrhunderte nicht mit einem anderen Begriff zu benennen, auch nicht mit dem Wort Antijudaismus.

„Nie wieder“ sollte so etwas geschehen. Dieses „Nie wieder“ ist jetzt.

5. Die Schule, ein Ort „mit Courage und ohne Rassismus“.
Der Antisemitismus hat leider das Ende der Diktatur in Deutschland überlebt. Wenn jüdische Menschen in Deutschland ein Element ihrer Identität (das niemandem Schaden zufügt!), nämlich ihr Judesein, aus Angst verbergen, ist die ganze Gesellschaft und mit ihr auch die Schule gefordert. Auf politische Debatten im Unterricht zu verzichten, bedeutet deshalb keinen Verzicht auf Haltung. Diskriminierte Minderheiten brauchen Menschen und Institutionen, die sich mit Mut an ihre Seite stellen.

Für ein eindeutiges Nein zu jeder Form von Antisemitismus gibt es viele Gründe. Einige von ihnen sind eine Konsequenz aus der deutschen Geschichte. Diese Verpflichtung gilt für alle, die in Deutschland leben, auch für junge Menschen, auch für Menschen mit einer anderen Staatsbürgerschaft. Für den (Religions-) Unterricht empfehle ich, vor allem anthropologisch und theologisch zu argumentieren. Das christliche Menschenbild ist untrennbar mit der Würde des Einzelnen und dem Verbot jeder Diskriminierung verbunden. Daraus leitet sich ab, dass kein Mensch „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens sowie seiner religiösen oder politischen Anschauungen (Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 3, Abs. 3)“ benachteiligt werden darf.

Aus diesem Grund sollte sich auch eine multikulturelle Lerngruppe sowohl gegen Islamphobie als auch gegen Antisemitismus aussprechen.

Ein Hinweis für Lehrpersonen, die sich für die Friedenserziehung stark machen. In einem anderen Blogbeitrag habe ich Astrid Lindgrens Appell an die Pädagoginnen und Pädagogen zitiert: „Wenn wir wollen, dass die Staatsmänner der Zukunft friedensfähiger sind, müssen wir heute damit beginnen.“

6. Kein Frieden der Nationen ohne Frieden der Religionen
Wie eingangs erwähnt ist der Krieg um Gaza kein religiöser Konflikt. Und doch haben die Religionen eine besondere Aufgabe. Dieser Blogbeitrag erinnert deshalb an den verstorbenen katholischen Theologen Hans Küng und sein Projekt Weltethos. Für eine bessere Welt brauchen wir eine gemeinsame Basis: Werte, die es bereits gibt und die wir uns immer wieder neu bewusst machen müssen. Die Initiatoren des Projektes waren und sind überzeugt: Das friedliche Zusammenleben der Völker ist auf einen Konsens über ethische Normen und Maßstäbe angewiesen. Die Hauptthese des Projekts Weltethos sei hier wiederholt: Es gibt keinen Frieden unter den Nationen ohne einen Frieden unter den Religionen.

In grundlegenden Dokumenten der Religionen ist dafür die Grundlage gelegt. Exemplarisch seien zwei Texte zitiert.

Sure 5,48 aus dem Koran in deutscher Übersetzung:
Für jeden von euch haben Wir Richtlinien und eine Laufbahn bestimmt. Und wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Er wollte euch aber in alledem, was Er euch gegeben hat, auf die Probe stellen. Darum sollt ihr um die guten Dinge wetteifern. Zu Allah werdet ihr allesamt zurückkehren und dann wird Er euch das kund tun, worüber ihr uneins wart.
zitiert nach https://islam.de/1410.php

Ich paraphrasiere: Wenn Gott gewollt hätte, dass es nur eine Religion gibt, es wäre für ihn ein Leichtes gewesen. Er aber wollte, dass die Religionen in einen Wettstreit um das Gute eintreten.

Ein zweites Dokument ist erst wenige Jahre alt. Am 4. Januar 2019 unterzeichneten Papst Franziskus und der ägyptische Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb in Abu Dhabi eine interreligiöse „Gemeinsame Erklärung zur Geschwisterlichkeit der Religionen und für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen“. Ein Auszug:

Aus der „Gemeinsamen Erklärung“:
Der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache entsprechen einem weisen göttlichen Willen, mit dem Gott die Menschen erschaffen hat.
Quelle: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2019-02/papst-franziskus-abu-dhabi-gemeinsame-erklaerung-grossimam.html

Ich paraphrasiere auch diesen Text: Als Gott die Welt schuf, hat er auch die Vielfalt erschaffen. Das schließt auch die Pluralität der Nationen und der Religionen ein.

7. Was helfen Gebete, was hilft ein Friedenskonzert?
Landauf landab versammeln sich Menschen derzeit zu (interreligiösen) Friedensgebeten und Gottesdiensten. Was nützen sie? Vor einigen Tagen stellte mir ein Freund genau diese Frage: Sag mir, was hilft es denn zu beten? Er war ehrlich besorgt und bat mich um eine Antwort, die ihm Hoffnung geben sollte. Ich fand nicht die rechten Worte. Erst heute weiß ich, was ich ihm antworten würde. Ich hoffe, er liest diesen Blog.

Du fragst mich: Was helfen Gebete? Ich frage: Was hat Daniel Barenboim mit seinem West-Eastern Divan Orchestra erreicht, das zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikerinnen und Musikern besteht? Ich glaube daran, dass seine Musik für den Frieden die Hoffnung am Leben erhält, dass Freundschaft und Gerechtigkeit in der Region möglich sind. Unsere Gebete und seine Konzerte ändern das Bewusstsein derer, die musizieren, derer, die seine Musik hören, und derer, die beten. Und ein neues Bewusstsein verändert auch die Welt.

Ein Lied ohne Worte
Ich denke an ein Gespräch des deutschen Pianisten Igor Levit mit Robert Habeck. Zunächst legt der Musiker dar, wie der Angriff der Hamas auf israelische Städte seine Existenz als Jude in Deutschland erschüttert hat. Habeck hört lange zu und fragt ihn dann, ob der gegenwärtige neue-alte Antisemitismus auch seine Existenz als Musiker tangiere. Ja, antwortet dieser. Wenn er dieser Tage ein Beethoven-Konzert spiele, denke er an alles, aber nicht an das Beethoven-Konzert. Dann sagt er:

„Natürlich glaube ich an Versöhnung. Ich will nicht, dass das so bleibt. Ich bin säkular erzogen und habe auch so gelebt, doch wenn ich an irgendetwas glaube, dann sind das Menschen. Für mich ist Versöhnung alternativlos. Aber Ehrlichmachung gehört dazu. Wir werden Lösungen nur finden, wenn wir einander zuhören.“

Und dann setzt sich Igor Levit ans Klavier und spielt auf einem verstimmten Flügel Felix Mendelssohns Lied ohne Worte op. 102, Nr. 1. In diesem getragenen Stück höre ich nicht nur die musikalische Sprache eines deutschen Komponisten des 19. Jahrhunderts, der in Hamburg als Jude geboren, in Berlin getauft wurde und in Leipzig starb. Es klingen in mir aber auch die Worte des Interpreten nach. Seine gesprochenen Worte unterstreicht er durch ein Lied ohne Worte: „Wir werden Lösungen nur finden, wenn wir einander zuhören.“

05.09.2021: „We never knew what friends we had until we came to Leningrad.” – Menschlichkeit ist möglich, sobald es zu Feindschaft erzogenen Menschen ermöglicht wird, einander zu begegnen.
14.11.2021: Am Volkstrauertag denke ich an Hugo. Er starb nicht für Deutschland. Er starb.
01.03.2022: Mit Kindern vom Krieg reden? Zehn Überlegungen
30.04.2023: Klug wie die Schlangen und aufrichtig wie die Tauben. Ein friedensethischer und theologischer Kommentar zum Krieg in der Ukraine
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19.11.2023: Gaza, Antisemitismus und ein Lied ohne Worte. SIeben Gedanken für die Praxis von Schule und Religionsunterricht
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