
Am 4. Januar 1927 wurde meinen Großeltern ein Junge geboren, der mein Onkel hätte werden können. Sie gaben ihm den Namen Hugo. Als er 12 Jahre alt war, überfielen deutsche Truppen Polen. Der 2. Weltkrieg begann. In den letzten Kriegsmonaten wurde er, gerade 18 Jahre alt, nach einer kurzen militärischen Ausbildung noch Köln kommandiert. Am 1. April 1945 geriet er im Rheinland zunächst in amerikanische, später in französische Gefangenschaft. Am 19. September starb er unter ungeklärten Umständen in Frankreich. Meine Großeltern erfuhren erst im Frühjahr 1946, dass er nicht mehr am Leben war. Hugo ist auf einem Soldatenfriedhof nahe Besançon begraben. Als Kind durfte ich den Ort einmal sehen. Die unübersehbare Zahl von Kreuzen auf diesem Friedhof habe ich nie vergessen.
Hugo ist eines der Millionen Opfer, die zwei verbrecherische Kriege des 20. Jahrhunderts in Europa forderten. Er starb für den Nationalismus einer politischen und militärischen Klasse und deren Ideologie sowie für die, die Befehle, oft wider besseres Wissen, weitergaben und Opfer verlangten.
Ist der Tod, den er starb, ein besonderer Tod? Starben die Soldaten der Weltkriege einen Heldentod, erbrachten sie ein Opfer für die Volksgemeinschaft, für ihr Vater- oder Mutterland? Unzählige Denkmäler wollen uns das glauben machen. Sie verklären Schrecken, Gewalt und Sinnlosigkeit. Der Vater, der Sohn, der Verlobte, der Bruder ist nicht mehr – aber er ist für etwas Großes gestorben.
Ein Monument im elsässischen Ingwiller entlarvt diesen Irrtum auf berührende Weise. Seine Ausgestaltung ist vielleicht noch keiner reflektierten Auseinandersetzung mit diesem Thema, sondern den besonderen Umständen im Grenzgebiet geschuldet. Einige der jungen Männer, derer hier gedacht wird, waren verpflichtet, für Deutschland zu kämpfen, andere standen in französischen Diensten. Die einen starben in deutschen, die anderen in französischen Uniformen. Für welches Vaterland sollten sie gestorben sein? Die Mütter und Väter der Stadt entschieden sich für die einzig richtige Lösung: Auf das Denkmal der Gefallenen der Weltkriege ließen sie die einfachen Worte anbringen: „A nos morts“ – „Den Toten“.


Die jungen Männer aus Ingwiller starben weder für Deutschland noch für Frankreich. Sie starben.
Am Volkstrauertag denke ich an Hugo. Dass er mein Onkel hätte werden können, ist nur eine von unzähligen Chancen seines Lebens, die ihm der Krieg genommen hat.
Beiträge auf www.horstheller.de
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