“We never knew what friends we had until we came to Leningrad” – Menschlichkeit ist möglich, sobald es Menschen ermöglicht wird, einander zu begegnen.

Musikalisch gefallen hatte mir das Lied aus dem Jahr 1989 schon immer. Doch es enthält eine Botschaft für unsere Tage, die sich mir jetzt erst erschlossen hat. Leningrad von Billy Joel erzählt die Geschichte zweier Menschen, die selbst Kinder des Kalten Krieges waren und in verfeindeten Systemen aufwuchsen. Als sie einander begegneten, entdeckten sie ihre Freundschaft, die die Ideologien ihrer Nationen jahrzehntelang um jeden Preis verhindern wollten.

Das Video zeigt Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, aus der Sowjetunion, aus den USA der 50er Jahre und der Kubakrise. Anlass für mich, sich mit ihm zu beschäftigen, ist der 80. Jahrestag einer Grausamkeit des Zweiten Weltkriegs. Am 8. September 1941 begann die Belagerung der Stadt Leningrad, heute St. Petersburg, durch die Truppen der deutschen Wehrmacht. Sie dauerte bis zum Januar 1944, also fast zweieinhalb Jahre lang. Die nationalsozialistische Diktatur hatte beschlossen, die Stadt zu Tode auszuhungern und zeitgleich zu bombadieren, aber nicht einzunehmen. Dieses Kriegsverbrechen kostete mehr als eine Million Menschenleben.

Eines der Opfer dieser entsetzlichen Strategie starb gegen Ende der Belagerung, während seine Frau mit einem Jungen schwanger war. Viktor Razinov kam im Frühjahr 1944 zur Welt, wenige Monate nachdem die sowjetische Armee den Belagerungsring endgültig aufgebrochen hatte. 43 Jahre später besuchte er in Leningrad ein Konzert des amerikanischen Rockmusiker Billy Joel. Die Begegnung beider fand ihren Niederschlag in dessen persönlichstem Lied.

Viktor hatte seinen Vater nie kennenlernen dürfen. Er wuchs in der Sowjetunion auf, diente in der Roten Armee und trank Wodka, um den Schmerz seiner verlorenen Kindheit zu lindern. Für Zweifel am System gab es keinen Raum. Wer sie äußerte, galt als Imperialist und musste um sein Leben fürchten. Er wurde ein Zirkusclown und machte es sich zur Aufgabe, russischen Kindern ein wenig von dem Glück zu schenken, das ihm nicht vergönnt gewesen war.

„Victor was sent to some red army town
Served out his time, became a circus clown
The greatest happiness, he’d ever found
Was making Russian children glad
When children lived in Leningrad.“

Auf der anderen Seite der Welt lebte zur gleichen Zeit Billy, auch er ein Kind des Kalten Krieges. 1949 in New York City geboren, war seine Kindheit von den Konfrontationen der Kubakrise und dem Koreakrieg sowie von der McCarthy-Ära geprägt. Wer sich unkonventionell äußerte, machte sich verdächtig und musste mit einem Verhör und Schlimmerem rechnen. Billy ahnte nicht, dass jenseits des Eisernen Vorhangs Menschen lebten, die sich nach Begegnungen sehnten. Beide Systeme ignorierten das Verlangen der Menschen, die Grenzen der Ideologien zu überwinden. Sie benötigten lebendige Feindbilder zur Selbsterhaltung.

Als erster amerikanischer Rockmusiker durfte Billy Joel im Jahre 1987 eine Tournee durch die Sowjetunion machen. Dort lernten sich der Mann aus Leningrad und der Mann aus New York kennen. Viktor Razinov hatte Karten für alle sechs Konzerte erworben und reiste dem Künstler nach. Der Amerikaner hatte seine zweijährige Tochter mitgenommen. Sie musste lachen, als sie den russischen Clown sah. In diesem Moment, so Billy Joel später, endete für ihn der kalte Krieg. Der Clown und der Sänger wurden Freunde.

So my child and I came to this place
To meet him, eye to eye and face to face
He made my daughter laugh
Then we embraced.
We never knew what friends we had
Until we came to Leningrad.

Leningrad“, ein Lied über das Aufwachsen in kinderfeindlicher Umgebung, entstand zwei Jahre nach dieser Begegnung. Die antikommunistische McCarthy-Verhöre sind Geschichte, ebenso die Diktaturen des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Doch der Ruf zum Frieden und die Ermutigung zur Überwindung der Feindschaft durch menschliche Begegnung sind ungeheuer aktuell.

Am Ende des Liedes erklingt eine Melodie aus Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur, eine Reminiszenz an den großen Sohn der russischen Nation. Nicht Abgrenzung, Abwertung oder gar Bekämpfung des Fremden, sondern Respekt und Wertschätzung sind nötig. Menschlichkeit ist möglich, sobald es den angeblichen Feinden erlaubt ist, einander zu begegnen.

Abwehr eines Luftangriffs in Leningrad (1941)

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