
Am Vormittag hatte Claus Schenk Graf von Stauffenberg eine Aktentasche mit einem Kilogramm Sprengstoff in der Baracke deponiert, in der das Oberkommando der Wehrmacht und die politische Führung von NS-Deutschland zu einer Lagebesprechung zusammengekommen waren. Anschließend verließ er die Besprechung unter einem Vorwand, um nach Berlin zurückzufliegen. Wenige Minuten später explodierte die Bombe. Die Detonation tötete vier Menschen und verletzte neun weitere schwer.
Die Nachrichten, die in den nächsten Stunden Berlin erreichten, waren nicht eindeutig. War der Führer unter den Toten? Im Bendlerblock, dem Ort, an dem die Operation Walküre anlaufen sollte, war Verunsicherung zu spüren. Wer musste mit einer Verhaftung rechnen, die Verschwörer oder die dem Nationalsozialismus treu ergebenen Offiziere?
In der Ausstellung an historischer Stelle „Ihr trugt die Schande nicht. – Die frühe Erinnerung an den 20. Juli 1944“ (bis zum Januar 2020 zu besichtigen), las ich den Bericht eines Augenzeugen, dessen Name mit Max Jeromin angegeben wird. Er erzählt, dass zunächst die Entmachtung der führenden Offiziere begann, dass sich dann aber das Blatt wendete:
„Es war etwa halb fünf Uhr nachmittags. Da fuhr ein Wagen mit dem WH-Schild in den Hof. Ich erkannte sofort, wer da angekommen war. Es gab nur einen Generalsabsoffizier, der trotz seiner Einarmigkeit so imposant wirkte: Stauffenberg. Der Wagen hält vor dem kleinen Eingang zur Dienststelle des Oberbefehlshabers des Heimatheers Generaloberst Fromm (Dieser wird später die Erschießungen anordnen, wenige Wochen vor Kriegsende aber ebenfalls hingerichtet). Oberst Graf Stauffenberg war sein Stabschef. Wohl kamen nacheinander noch ein paar Wagen, aber das fiel ja hier gar nicht weiter auf. … Ich ging in die Pförtnerloge. Es mag kurz nach 5 Uhr gewesen sein, als ich hier mit einem Male ans Telefon gerufen wurde. Eine Sekretärin des allgemeinen Heeresamtes, das unter General Olbrichts Leitung eine Treppe unter Fromm saß, übermittelte mir den Befehl, sofort für die Bequemlichkeit einiger verhafteter Offiziere zu sorgen. Ich bekam einige Soldaten zugeteilt, um die notwendigen Möbelstücke in die Büroräume schaffen zu lassen. In der Einfahrt hier hörte ich gerade noch, wie die Wachen den Befehl bekamen, niemand herein- oder herauszulassen. Was war geschehen? Ich fragte nicht, aber bald erfuhr ich, dass Generaloberst Fromm mit einigen seiner Offiziere verhaftet sei.



Als ich meine Anordnungen wegen Fromms Unterbringung getroffen hatte, lief ich schnell durch die verwinkelten Eingänge und Höfe zu meinem Freunde Grass von der Kurierstelle. Der hatte alle Hände voll zu tun und wusste auch nicht mehr, als ich bereits erfahren hatte. Unterwegs fragte mich im Vorüberhasten ein Offizier: Für oder gegen den Führer? Da ich das Haus kenne, konnte ich einer präzisen Antwort auf diese plumpe Frage durchaus ausweichen, dass ich mich in eine Ecke verdrückte, wo ich eine Tür wusste. Das muss so um 8 Uhr gewesen sein.
Zufällig hörte ich, wie nach Generalfeldmarschall von Witzleben gefragt wurde. … Als es bereits recht dunkel war, rückt das Wachregiment „Großdeutschland“ an. Diese Abteilung unterstand dem damaligen Major Remer. Er ließ alle Häuser und Eingänge besetzen und sperrte unseren Hof gegen den übrigen Block ab.
Gerade wie ich zu meiner Wohnung gehen will, sehe ich im Schatten einen Mann auf mich zukommen. Erbarmen, dachte ich, das ist doch der Witzleben. Er sprang mich richtig an und fragte nur: Wo ist hier ein unbewachter Ausgang? Na, da hinten bei den Garagen war so ein luftschutzmäßiger Mauerdurchbruch, der offiziell ja nicht als Tür galt. Den hatten sie bestimmt übersehen. So ging ich schnell dorthin und der Feldmarschall immer dicht neben mir. Und tatsächlich, keine Menschenseele war zu sehen, und der Marschall, nix wie raus! (Es gelingt ihm zwar die Flucht, am nächsten Tag aber wird er verhaftet, vom „Volksgerichtshof“ wenige Wochen später zum Tode verurteilt und hingerichtet.)
Mir wurde es nun langsam zu gefährlich. Ich ging zu meiner Frau in unsere schräg gegenüber dem „Heimatheer“ gelegene Parterrewohnung. Ich stellte mich in der Küche ans Fenster, machte aber natürlich kein Licht und sagte zu meiner Frau: Martha, sagte ich, koch mir nur schnell einen ganz starken Kaffee! Als ich sah, dass nun auch noch SS in den Hof rückte, nahm ich die Matratzen aus den Betten und legte die beiden Kinder auf dem Fußboden schlafen, denn ich sagte mir: Besser ist besser, wenn die SS da ist, wegen der Schießerei…
Lange Zeit geschah nichts. Ich blieb in der Küche und wartete ab. (In der Zwischenzeit hat sich das Blatt gewendet. Staufenberg und die Mitverschwörer werden nun ihrerseits verhaftet.) Ich stehe immer noch am Fenster meiner Küche, und so sehe ich, wie ein Auto in den Hof fährt und in der Mitte anhält. Seine grellen Scheinwerfer strahlen gegen die gegenüberliegende Wand. Dort steht an der Hausmauer ein Parkverbotsschild. Die Fenster im Parterre sind durch eine hohe Sandaufschüttung luftschutzmäßig abgedeckt. Und dann kommt da drüben aus der schmalen Tür … ein einarmiger Offizier (Stauffenberg) mit schlohweißem Gesicht. Neben ihm geht ein SS-Offizier. Mit einer Handbewegung weist der Führer des hier vor meinen Augen aufmarschierten Exekutionskommandos auf das Parkverbotsschild. Stauffenberg folgt und stellt sich vor die Sandaufschüttung. Draußen brummt der Motor des Autos auf hohen Touren. Die Scheinwerfer erleuchten taghell die gespenstische Szene. … Auf ein Kommando legen die fünf Unteroffiziere an. In diesem Augenblick schreit Stauffenberg: Es lebe das ewige Deutschland! Da kracht die Salve. … Meine Frau hat aufgeschrien, dann ist sie rausgegangen. Wieder kracht eine Salve. … (Drei weitere Offiziere, Oberleutnant Werner von Haeften, General Friedrich Olbricht und Oberst Albrecht von Mertz werden ebenfalls standrechtlich erschossen.)
SS-Männer zerren die Leichen zu dem Auto, werfen die Toten roh hinein. Aus dem Eingang bringt man noch einen. (Es ist Generaloberst Ludwig Beck). Der Wagen fährt an, blendet mir beim Wenden kurz in die Augen, dann ist es stockdunkel. …“

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