„Lernt schwimmen!“ Für Erich Kästners Roman „Fabian“ waren die „Goldenen 1920er Jahre“ blind und taub für die kommende Katastrophe. Wie würde der Dresdner Autor wohl die 2020er Jahre nennen?

Bei meinem Besuch in Dresden wurde ich auf Erich Kästners Hauptwerk Fabian, seinen wichtigsten Roman für Erwachsene, aufmerksam, der vor genau 90 Jahren erschien. Er ist weniger bekannt als die berühmten Emil und die Detektive, Das fliegende Klassenzimmer und Pünktchen und Anton. Kästner war im Nationalsozialismus ein verbotener Autor, wie er sich selbst nannte. Das lag aber nicht an seinen Kinderbüchern. Im Gegenteil: Goebbels erste Schwarze Liste des Jahres 1933 legte für Kästner fest, dass „Alles außer Emil“ verboten war. Nur sein berühmtes Buch aus dem Jahr 1929 durfte anfangs noch verkauft, aber in den Schaufensterauslagen nicht gezeigt werden. Die Gründe, dass der Schriftsteller, Feuilletonist und Literaturwissenschaftler elfeinhalb Jahre nicht – oder zeitweise nur unter Pseudonym – publizieren durfte, sind in seiner Lyrik – und eben in seinem Fabian, zu finden. Der Roman erschien vor 90 Jahren, im Oktober 1931.

Er erzählt die Geschichte des Werbetexters Dr. Jacob Fabian und seines besten Freundes, des Wissenschaftlers Stephan Labude. Fabian, das alte Ego Kästners, stammt wie der Autor aus Dresden und lebt in Berlin. In den möblierten Zimmern, den Cafés, auf den Straßen und Plätzen sowie in den Bordellen und Büros der Hauptstadt spielt der größte Teil des Buches.

Auf seinen ersten Seiten werden Fabian und Labude Zeuge einer nächtlichen Schießerei zwischen einem Kommunisten und einem Nationalsozialisten. Die Straßenkämpfer verletzen sich gegenseitig und werden von den beiden Protagonisten mit einem Taxi ins Krankenhaus gefahren. Am Ende des Romans sind weder Fabian noch Labude noch am Leben. Labude hat sich das Leben genommen, weil ein Konkurrent behauptet hatte, seine Habilitationsschrift sei abgelehnt worden, was nicht stimmte. Fabian ertrinkt auf der letzten Seite des Buches. Zwischen Exposition und Finale erzählt der Roman die kurze und tragische Liebesgeschichte Fabians und der Juristin Cornelia Battenberg.

Fabian verkaufte sich 18 Monate lang sehr gut, dann wurde er verboten. Er sei eine Satire, schrieb der Verfasser 1946 im Nachwort der Neuauflage. Er habe der Gesellschaft einen Zerrspiegel hingehalten, um ihr die eigene Krise überdeutlich zu zeigen. Er habe vor dem drohenden Untergang gewarnt. Einen expliziten Bezug auf den Nationalsozialismus enthält das Buch zwar nicht, wohl aber Kritik am ungebrochenen Nationalismus und Militarismus seiner Zeit. Sein Mahnung verhallte indessen ungehört, wie wir wissen. Warum war das so?

Die Erstausgabe 1931 unterschied sich in einigen wichtigen Details von dem Manuskript, das Kästner eingereicht hatte. Der Verlag verlangte die Streichung einiger Passagen, die er dem Leser nicht zumuten wollte. Zu ihnen gehört eine Szene in einem Berliner Stadtbus, in dem sich die beiden Freunde in einer spontanen Comedy über Symbole preußischer Größe und Wahrzeichen des vergangenen Kaiserreichs lustig machen. Als der Bus am Berliner Dom vorbeifährt, fragt Labude seinen Freund, für alle vernehmbar: „Was ist das für ein Gebäude, Jonathan?“ Und der ruft ebenso laut: „Das da, das ist die Hauptfeuerwache.“ Die Fahrgäste schauen sich fragend an. Als der Bus die Humboldt-Universität passiert, damals das Symbol deutscher Gelehrsamkeit, fragt Labude, der sich schwerhörig stellt, damit Fabian auch ja laut genug antwortet: „Und das da?“ „Das ist eine Anstalt für schwachsinnige Kinder“, antwortet Fabian. Die Mitfahrenden werden unruhig, doch die beiden Freunde haben noch nicht genug. Warum es denn am Rathaus so still sei, fragt Labude seinen Freund, als sie die Staatsbibliothek erkennen. „Die Herren vom Magistrat sind viel unterwegs“, antwortet Fabian. „Ein paar erholen sich in der Schweiz, ein paar lassen sich operieren, und die Mehrzahl hat Gerichtsferien. Nun sitzen die Fahrgäste mit versteinertem Gesicht auf ihren Plätzen. Die Beleidigung der Symbole der deutschen Nation ist unerträglich. Schließlich fährt der Bus durch das Brandenburger Tor. „Das ist ein Verkehrsturm“, doziert Fabian und fährt fort, seine Quadriga sei ein Denkmal für die letzte Berliner Pferdedroschke. Das ist nun zu viel. Eine Frau bricht in Tränen aus. Andere schreien und schimpfen durcheinander, einer droht den Provokateuren Schläge an. Die preußische Vergangenheit darf von respektlosen Zeitgenossen nicht in den Dreck gezogen werden. Labude wendet sich ironisch an den Schaffner. „Herr Ober, wollen Sie diese Herrschaften bitte zur Ordnung rufen?“, fragt er ihn und springt aus den fahrenden Wagen. Fabian verlässt den Stadtbus an der nächsten Haltestelle.

Diese Satire und einige andere Abschnitte – so die Befürchtung des Verlags – würde auch Leserinnen und Leser provozieren. Kästner musste schweren Herzens der Streichung zustimmen. Für sein Anliegen hingegen wären sie wichtig gewesen. Der erstarkende Nationalsozialismus erschien ihm als Folge eines deutschen Nationalismus, als deren städtebaulichen Niederschlag er diese Bauwerke ansah.

Ob der Weckruf gehört worden wäre, wäre diese Passage Teil der Erstausgabe geblieben, darf bezweifelt werden. Schwerer wiegt da schon, dass der Titel Der Gang vor die Hunde nicht erhalten blieb. Kästner hatte diesen Titel vorgeschlagen, damit schon auf dem Umschlag erkennbar war, was er befürchtete. An seiner Stelle erhielt das Buch den Titel: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. Damit unterstrich der Verlag, dass das Buch, das auch eine für die damalige Zeit ungewöhnlich freizügige Darstellungen von Sexualität enthält, keineswegs unmoralisch sein wollte. „Der Autor“, so Kästner in seinem Nachwort von 1931, „sieht, dass seine Zeitgenossen, störrisch wie ein Esel, rückwärtslaufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist.“ Ein deutlicher Hinweis auf die Intention des Buches. Doch auch diese Anleitung zum richtigen Lesen wurde vom Verlag abgelehnt.

Zum 90. Jahrestag der Erstausgabe liegt das Buch nun unter seinem ursprünglichen Titel und ohne alle Kürzungen vor. Nicht nur in der politischen Spaltung der Gesellschaft, sondern auch in der sozialen Schieflage seiner Zeit, dem Elend vieler Kinder und in der politischen Krise der Weimarer Zeit sah Kästner Vorboten des Unheils. Damit war der Autor, dessen Ruhm heute vor allem auf seinen Kinderbüchern beruht, einer der wenigen Hellsichtigen, der die Gefahr des aufkommenden Faschismus klar erkannte.

Im letzten Kapitel verlässt sein Protagonist die Hauptstadt für immer. Seine Freundin, die mit ihm die Sehnsucht nach einem „normalen“ Leben in verrückter Zeit teilt, möchte beim Film arbeiten. Doch der Einstieg in eine Karriere ist daran geknüpft, dass sie dem Produzenten auch nach den Dreharbeiten für „private Dienstleistungen“ zur Verfügung steht. Sie beschließt es zu ertragen „wie eine Untersuchung beim Frauenarzt“. Fabian hatte viele Seiten vorher seinem Chef, dem Direktor Breitkopf, vorgeworfen, dass er „die Tippfräuleins auf den Schreibtisch lege.“ Unter einem Vorwand wird ihm kurz darauf gekündigt. Nun erträgt er es nicht, dass seine Freundin dieses Opfer bringen will, um ihren Traum zu leben. Er trennt sich von ihr und reist arbeitslos in seine Heimatstadt Dresden. Dort beobachtet er, dass ein Junge von einer Elbbrücke ins Wasser fällt. Er zieht seine Jacke aus und springt in den Fluss, um das Kind zu retten. Fabian ertrinkt, denn er kann nicht schwimmen. Der Junge hingegen schwimmt weinend ans Ufer.

Die Zeit Fabians und Labudes gilt als die Goldenen Zwanziger. Dem städtischen Milieu bescherte sie neue Freiheiten, die sozialen Unterschiede hingegen blieben bestehen. Davon erzählt Kästners Buch auf jeder Seite. Für ihn war dieses wilde Jahrzehnt aber zugleich eine blinde Epoche, die die Sorgen vor der aufziehenden Katastrophe wegtanzte. Diese Blindheit teilt auch sein Protagonist. Im letzten Kapitel des Romans tut er das falsche und kommt dabei ums Leben. Es trägt die Überschrift Lernt schwimmen!, mit der sich der Autor – ein einziges Mal – in einem Imperativ an den Leser wendet: Ihr kennt jetzt die Gefahr. Macht es anders als Fabian. Macht es besser! Wie würde der Dresdner Autor wohl die 2020er Jahre nennen?

Auf der Grundlage der Urfassung ist Kästners Buch in 2021 von Dominik Graf in epischer Länge neu verfilmt worden.

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