
London, 23. August 1846. Frühmorgens um 2 Uhr bestieg Felix Mendelssohn zusammen mit seinem Freund Ignaz Moscheles einen Sonderzug. Er brachte ihn und eine große Zahl Musiker in das 120 Meilen entfernte Birmingham, wo sein neu komponiertes Oratorium Elias erstmalig erklingen sollte. Die Idee für dieses Werk war fast 10 Jahre alt. Immer wieder hatte er Vorschläge erhalten und Rat gesucht. Vor zwei Jahren konnte endlich die Kompositionsarbeit beginnen, nachdem Inhalt und Textbuch feststanden. Dann erhielt er die Einladung, das neue Oratorium im Rahmen eines großen städtischen Musikfestes in Birmingham uraufzuführen. Nie zuvor in der Kulturgeschichte Englands war für ein Konzert ein Sonderzug zusammengestellt worden.
Das Musikfest sollte der Höhepunkt der Kultursaison der Stadt werden. Es waren sechs Konzerte in vier Tagen geplant, mit Georg Friedrich Händels Messias, Joseph Haydns Schöpfung, Beethovens Missa Solemnis und weiteren Orchesterwerken – und eben mit dem neuen Oratorium des deutschen Komponisten, das bislang niemand gehört hatte. Aber der Direktor des Leipziger Gewandhauses galt in England zu dieser Zeit bereits als der größte lebende Komponist, und seinem neuen Werk gingen überschwängliche Lobeshymnen voraus.
Als sich der Nachtzug in London in Bewegung setzte, begann die letzte Etappe der Vorbereitungen auf diesen Tag. Mendelssohn war fünf Tage zuvor in London eingetroffen. Noch am Abend nach der anstrengenden Überfahrt mit dem Dampfschiff von Ostende nach Dover wurde zu seinen Ehren in London ein Konzert veranstaltet, bei dem sein Oktett und sein zweites Klaviertrio gespielt wurden. Der Komponist selbst übernahm an diesem Abend den Klavierpart. Tags darauf probte er mit den Solisten erstmalig das neue Oratorium.
In Birmingham waren für den Elias zwei weitere Proben am Montagmorgen und am Dienstagabend angesetzt. Als Moscheles, der einen Teil der Konzerte leiten sollte, nach der Ankunft in Birmingham erkrankte, übernahm Mendelssohn am Montagabend für seinen Freund und Reisebegleiter die Probe für Beethovens Missa Solemnis und dirigierte am Dienstagmorgen Haydns Schöpfung.
Am Mittwochmorgen folgte mit der Uraufführung des Elias der Höhepunkt des Festivals. Als die Mitwirkenden ihre Plätze eingenommen hatten, war die Dimension des Konzertprojekts für alle sichtbar. Auf der Bühne hatten sich fast 80 Soprane, 60 männliche Altisten, 60 Tenöre und 70 Bässe versammelt. Vor ihnen saßen und standen 125 Musiker mit ihren Instrumenten.
Das Konzert wurde ein fantastischer Erfolg. Der Schlusschor ging in Jubelrufen des Publikums unter. „Noch niemals ist ein Stück von mir bei der ersten Aufführung so vortrefflich gegangen und von den Musikern und den Zuhörern so begeistert aufgenommen worden […]. Die ganze dritthalb Stunde, die es dauerte, war der Saal mit seinen 2.000 Menschen und das große Orchester alles so vollkommen auf den Punkt […], dass von den Zuhörern nicht das leiseste Geräusch zu hören war. […] Nicht weniger als vier Chöre und vier Arien wurden wiederholt, und im ganzen ersten Teil war nicht ein einziger Fehler. Nachher im zweiten kamen einige vor, aber auch die nur sehr unbedeutend.“ So berichtete der Komponist seinem Bruder Paul von der Aufführung. Der Veranstalter hatte sich im Vorfeld abgesichert, falls das Werk wider Erwarten doch durchfallen sollte und hatte noch Arien von Mozart und weitere Stücke auf das Programm gesetzt.

Als das Konzert um die Mittagszeit beendet war, blieben den erschöpften Künstlern nur wenige Stunden zur Entspannung. Mendelssohn nutzte sie für einen Spaziergang mit befreundeten Musikern. Am Abend erklang unter der Leitung von Ignaz Moscheles Beethovens siebte Sinfonie, wegen der Erkrankung des Dirigenten ohne vorangegangene Probe. Am nächsten Tag war erneut Mendelssohn an der Reihe. Zuerst wurde Händels Messias aufgeführt, ebenfalls so gut wie ungeprobt. Und am Abend dieses Tages dirigierte er schließlich seinen Sommernachtstraum und weitere eigene Stücke. Das letzte Konzert am Freitag, in dem Werke von Cherubini und Beethoven sowie eine Oper von Händel erklangen, stand wieder unter dem Dirigat von Moscheles. Weil ein kleiner, aber wichtiger Teil der Noten der Oper nicht auffindbar war, zog sich Mendelssohn in einer Pause in einen Nebenraum zurück und komponierte den fehlenden Chor ganz im Stile Händels. Niemandem fiel es auf, dass an dieser Stelle nicht Händel, sondern ein Händel-Imitat zu hören war. Nur dem Tagebuch seines Freundes ist es zu verdanken, dass wir davon wissen.
Am Ende der Woche kehrten Mendelssohn und sein Freund nach London zurück. Der Erfolg des Festivals rief weitere Konzertveranstalter auf den Plan. Konnte der Elias denn nicht auch noch kurzfristig in London erklingen? Doch weitere Konzerte lehnte der erschöpfte Komponist ab und bestand auf einer Ruhepause. Am 6. September überquerte er wieder den Kanal – diesmal Richtung Kontinent – und reiste über Frankfurt zurück nach Leipzig. Dort erwartete man ihn schon für die Abonnementkonzerte, die am 4. Oktober beginnen sollten.
Felix Mendelsohn und sein Elias hatten die Musikfreunde der Insel verzaubert. Die Anstrengungen dieser Tage müssen für den sensiblen und perfektionistischen Künstler immens gewesen sein. Warum verlangte er sich so unendlich viel ab? Ließ ihn die Musik seine physischen Grenzen vergessen? Als er im Herbst seine Arbeit in Leipzig wieder aufnahm, hatte er nur noch ein Jahr zu leben.

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