Klug wie die Schlangen und aufrichtig wie die Tauben. Ein friedensethischer und theologischer Kommentar zum Krieg in der Ukraine

Horst Heller CC BY-SA 4.0
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Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen sind militärische Mittel legitim. In der evangelischen Kirche wird seit einem guten Jahr darüber diskutiert, ob der Verteidigungskrieg der Ukraine eine solche Ausnahme ist. Wenn ja, sind Waffenlieferungen für die Armee der Ukraine statthaft, ja möglicherweise sogar ethisch geboten. Die Gegner einer solchen militärischen Unterstützung berufen sich allerdings auf das Neue Testament und zitieren die Bergpredigt:

„Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes heißen!“ (Mt 5,9)
„Wehrt euch nicht gegen Menschen, die euch Böses antun! Sondern wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere Backe hin.“ (Mt 5, 39)

Diese Sätze der Bergpredigt Jesu loben alle, die auf Gewalt verzichten können, und fordern auf, sich darin zu üben. Denn Krieg kostet unschuldige Menschenleben, zerstört Lebensräume und Natur. Kinder, die im Krieg aufwachsen, werden traumatisiert oder tragen psychische und manchmal auch physische Verletzungen, oft ein Leben lang. Wer sich deshalb darauf versteht, die Gewalt eines Gegners ohne eigene Gewalt zu überwinden, dem gelingt ein seltenes Meisterstück.

Frage 1: Was bedeutet „Selig sind die Frieden stiften“ für Präsident Putin und seine Generäle?
Das ist eindeutig: Zieht eure Soldaten zurück, hört auf zu töten und zu zerstören!

Gegenfrage: Der Kreml behauptet, der Krieg sei Russland von seinen Gegnern aufgezwungen worden, die das große Land bedrohen und erniedrigen. Die „militärische Spezialoperation“ sei ein Kampf gegen das Böse, das in Kiew regiere. Ich teile diese Sicht nicht. Aber ich unterstelle einen Moment lang, sie sei wahr. Ist der Krieg gegen die Ukraine dann ethisch gerechtfertigt?
Das internationale Recht sagt Nein. Auch theologisch ist zu fragen: Hat die russische Politik vor ihrem Angriff auf das Nachbarland versucht, das dort vermutete Böse zu überwinden, ohne selbst böse zu werden? Ich habe nicht wahrgenommen, dass es einen Versuch gegeben hat.

Eine pazifistische Gesinnung bringt der Ukraine derzeit keinen Frieden.

Frage 2: Was bedeutet „Selig sind die Frieden stiften“ für die Ukraine, ihre Regierung und ihr Militär?
Das Schweigen der Waffen hat vielerorts keinen Frieden gebracht. Die russischen Besatzungstruppen stehen in Verdacht, Kriegsverbrechen in großer Zahl überall dort gegangen zu haben und weiterhin zu begehen, wo sie die ukrainischen Soldaten besiegt und vertrieben haben. Die Weisung der Bergpredigt „Wehrt euch nicht, wenn Menschen euch Böses antun wollen“ kann also keine Aufforderung sein, sich zu ergeben. Denn eine Kapitulation lässt die Menschen im Land schutzlos zurück. Es ist bitter, aber wahr: Eine pazifistische Gesinnung bringt in diesem Krieg derzeit keinen Frieden.

Frage 3: Was bedeutet „Selig sind die Frieden stiften“ für die übrigen demokratischen Länder Europas?
Das oben Gesagte gilt gleichermaßen für alle, die die Ukraine um Beistand gebeten hat. Wer Angegriffenen nicht zur Seite steht, obwohl er es könnte, ist kein Friedensstifter. „An allem Unfug, der geschieht, sind nicht nur die schuld, die ihn begehen, sondern auch diejenigen, die ihn nicht verhindern“, hat Erich Kästner (Das fliegende Klassenzimmer) einmal gesagt. Solange Menschen gegen feindliche Artillerie und Raketen nur militärisch geschützt werden können, ist die Verweigerung dieser Unterstützung schlicht unterlassene Hilfeleistung. Der Verzicht auf den Einsatz auf Waffen ist ein hohes Gut, aber die Solidarität ist ihm ebenbürtig.

Pazifismus ist nur dann aufrichtig, wenn er die Folgen dieser Haltung selbst erträgt.

Gegenfrage 1: Gilt die Forderung der Bergpredigt, dem Bösen nicht zu widerstehen, nicht auch für die Ukraine?
Wer nicht angegriffen wird, hat kein Recht, den Opfern eines Überfalls Ratschläge zu geben. Pazifismus ist nur dann wahrhaftig, wenn die Folgen dieser Haltung nicht von anderen ertragen werden müssen. Wen die Gewalt trifft, darf entscheiden, ob er sich wehren will.

Gegenfrage 2: Von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen werden ein Waffenstillstand und die unverzügliche Aufnahme von Friedensverhandlungen gefordert. Das Leben und der Frieden seien zu wertvoll, als sie dem Wert der Souveränität der Ukraine unterzuordnen. Warum ist die Ukraine nicht dazu nicht bereit?
Neben den Antworten, die schon weiter oben gegeben wurden, müssten Verhandlungen auf einen Frieden zielen, der Verbrechen und Rechtsverletzungen benennt und sanktioniert. Dazu ist der Angreifer derzeit offenbar nicht bereit. Ein Frieden aber, der Eroberungen und Unrecht legitimiert, ist ungerecht und wird kaum nachhaltig sein. Der Frieden ist ein hohes Gut, aber das Recht ist ihm ebenbürtig.

Wenn sich das Gute nicht von alleine durchsetzt, braucht es eine Kombination von Aufrichtigkeit und Klugheit.

Ein Zwischenfazit: Eine pazifistische Gesinnung ist derzeit keine christliche Haltung angesichts der Rückkehr des Krieges nach Europa, weil arglose Gewaltlosigkeit die Gewalt des Angreifers nicht überwindet. „Die andere Wange hinzuhalten“, kostet noch zu vielen Unschuldigen das Leben.


Ein Versuch: Aufrichtig wie die Tauben und zugleich klug wie die Schlangen

Wie kann eine christliche Antwort aussehen? Kann sie an ein anderes Jesuswort anknüpfen?

Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Seid klug wie die Schlangen, aber zugleich aufrichtig wie die Tauben! (Mt 10,16)

Schafe unter Wölfen. Es ist ein drastisches Bild, das nicht vorschnell auf politische Situationen übertragen werden darf. Es entstammt der Aussendungsrede Jesu an seine Jünger. Anders als die Seligpreisungen beschreibt es nicht ein Ideal christlicher Ethik, sondern es bedenkt, dass sich das Gute nicht von alleine durchsetzt. Für diese Realität empfiehlt es eine pragmatische Haltung in Zeiten der Bedrohung: Damit die Friedfertigen in einer bösen Umgebung bestehen können, brauchen sie eine Kombination von Aufrichtigkeit und Klugheit.

Aufrichtig wie die Tauben
Ob die Tauben wirklich aufrichtig sind, sei dahingestellt. Das Tiersymbol will Menschen ermutigen, dem Frieden und der Verständigung eine ehrliche Chance zu geben und auf militärische Gewalt nicht allein mit Gegengewalt zu reagieren. Auch die Waffenlieferungen sind kritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie das Leiden der Menschen nicht vergrößern oder perpetuieren.

Auf diesem Blog habe ich viele Male die Sinnlosigkeit von Waffengängen kritisiert und zuletzt einen Menschen portraitiert, der durch die Schrecken des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten wurde. Doch ich denke auch an die biblischen Propheten. Sie unterstrichen die Solidarität mit den Unterdrückten. Der Umgang mit den Mitmenschen war für sie Indikator für das Gottesverhältnis.

Ohne eine begleitende proaktive Friedenspolitik könnten Waffenlieferungen das Ziel eines gerechten Friedens verfehlen.

Seid klug wie die Schlangen
Ob die Schlangen wirklich klug sind, sei ebenfalls dahingestellt. Das Tiersymbol fordert Menschen auf, besonnen und verantwortlich zu handeln. Nicht die gute Gesinnung zeichnet das christliche Handeln aus, sondern ob sie einem guten Ziel dienlich ist. Dabei heiligt der Zweck die Mittel nicht. Wenn aber ohne militärische Mittel nur böse Zwecke erreicht werden, ist es legitim, dem Bösen auch so Einhalt zu gebieten. Mehr als das: Die Verantwortung und die Solidarität mit den Schwachen gebieten das.

Zusammengefasst: Klug wie die Schlangen und zugleich aufrichtig wie die Taube. Was heißt das für die Demokratien?
Ein Pazifismus, der Frieden einfordert, aber die Werte der Solidarität und der Gerechtigkeit missachtet, ist weder aufrichtig noch klug. Waffenlieferungen und militärische Ausrüstung sind deshalb derzeit erforderlich. Ohne eine begleitende proaktive Friedenspolitik könnten sie ihr Ziel, das Ende der Gewalt zu erzwingen, aber verfehlen. Die Strategie, die auf eine militärische Niederlage des Angreifers setzt, ist nur dann klug und aufrichtig, wenn sie fortwährend die Chancen für Verhandlungen über einen gerechten Frieden auslotet. Nach allem, was wir wissen, ist die Tür dazu bislang noch verschlossen. Demokratien haben aber die Aufgabe, alles zu unternehmen, dass sie sich wieder öffnet.

Zum Weiterlesen und Nachdenken:
„Die russische Führung hat sich in eine Lage manövriert, in der sie nur noch durch fortgesetztes Lügen ihr Gesicht wahren zu können glaubt. Dabei zielen ihre Lügen weniger auf die internationale Gemeinschaft als auf die eigene Bevölkerung, die kaum noch Zugang zu Quellen außerhalb der Regierungspropaganda hat.
Zur Umkehr ist es zu spät, Putin und Lawrow sind international zu Parias geworden. Man sagt ihnen strategische Intelligenz nach, doch den Wert einer wichtigen Ressource haben sie nicht begriffen: den der minimalen Vertrauenswürdigkeit. Dass die russischen Machthaber diesen Weg gewählt haben, macht sie zu Figuren der Vergangenheit. Heute gefährdet auch der Verlust weichen Kapitals politische Macht. Vielleicht werden sie den Machtverlust nicht mehr in Amt und Würden erleben, sondern in ihren Zellen in Den Haag. Schwer zu ertragen ist, dass für dieses abschreckende Beispiel und diesen historischen Lernprozess so viele Menschen sterben müssen.“
Geert Keil, Putins Lügen und Kants Irrtum, in Philosophie-Magazin
https://www.philomag.de/artikel/putins-luegen-und-kants-irrtum

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17.07.2020
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4 Gedanken zu “Klug wie die Schlangen und aufrichtig wie die Tauben. Ein friedensethischer und theologischer Kommentar zum Krieg in der Ukraine

  1. Krieg geht uns alle an. Ich schlage vor, dass wir keine Waffen mehr herstellen und ein paar andere Sachen auch nicht mehr und dass wir anstelle dafür sorgen, dass alle zu essen haben – am besten ohne Tiere zu töten.
    Dazu noch ein Gedicht von mir, welches zwar mit einem anderen Thema anfängt, aber auch aufzeigt, was für unsinnige Themen uns wichtig sind, angesichts der Not auf der Welt.
    Liebe Grüsse Brig
    http://brigwords.com/2023/01/29/limerick-gendern/

  2. Zwei Ergänzungen:
    „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Joh 18,36)
    Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren. (Bismarck, Helmut Schmidt und andere)

    Theologen möchten gern zu allem etwas sagen. Das ist auch in Ordnung. Aber sobald Theologie in Politikberatung übergeht, verlässt sie ihren sicheren Boden. Sie hat in dieser Hinsicht keine besondere Kompetenz.

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