
Horst Heller
Es scheint undenkbar, aber es ist nicht völlig abwegig, dass Johann Sebastian Bachs Musik erst heute neu entdeckt werden müsste. Denn nach dem Tod des Thomaskantors waren auch seine Kompositionen jahrzehntelang nicht mehr zu hören. Dass sein umfangreiches Werk heute weltbekannt ist und hochgeschätzt wird, hat wesentlich mit der Familie Mendelssohn zu tun.
Ganz vergessen war seine Musik nämlich nicht. In Fachkreisen wurden seine Klavier- und Orgelkompositionen durchaus geschätzt. Carl-Friedrich Zelter, der Leiter der Berliner Singakademie, der Fanny und Felix Mendelssohn im Fach Komposition unterrichtete, verehrte den großen Bach. Lea Mendelssohn, geb. Salomon, eine Pianistin und Mutter von Fanny und Felix, spielte seine Fugen. Ihre Mutter Bella Salomon besaß eine Abschrift der Matthäuspassion, die sie ihrem begabten Enkel Felix am Weihnachtsabend 1823 auf den Gabentisch legte. Sechs Jahre später erklang diese in Berlin in einer von Mendelssohn und seinen Freunden bearbeiteten Version, vielleicht zum ersten Mal seit Bachs Tod 1750 als vollständiges Werk. Diese denkwürdige Aufführung am 11. März 1829 brachte die Musik Bachs zurück in das Bewusstsein der Öffentlichkeit.
Leipzig musste allerdings noch mehr als ein Jahrzehnt auf eine Bach-Renaissance warten. Dass die Stadt des Thomaskantors ihren berühmten Sohn wiederentdeckte, ist ein persönlicher Verdienst von Felix Mendelssohn Bartholdy. Nur seinem beharrlichen Bemühen ist es zu verdanken, dass auch hier die Kompositionen Bachs wieder musiziert wurden. Im April 1841 dirigierte Mendelssohn die Matthäuspassion am Ort ihrer Erstaufführung in der Leipziger Thomaskirche. Ein denkwürdiges Ereignis!
Zwei Jahre später sorgte Mendelssohn dafür, dass unmittelbar neben Bachs ehemaliger Wirkungsstätte, der Thomasschule, das älteste bis heute noch bestehende Denkmal für Johann Sebastian Bach errichtet wurde. Es wurde im Beisein Robert Schumanns und des letzten lebenden Bachenkels, des fast 84-jährigen Wilhelm Bach am 23. April 1843 feierlich enthüllt. Das Sandsteinmonument war auf sein Betreiben von Hermann Knaur geschaffen und von ihm selbst durch Konzerterlöse und aus eigenem Vermögen bezahlt worden. Es ist ein bemerkenswertes Monument. … Gibt es doch keinen zweiten Fall, dass ein lebender Komponist einen vorangegangenen Musikergenie ein öffentliches Denkmal widmete, den Aufwand selbst finanzierte, und das Aussehen des Bildwerks bestimmte. (Voerkel, S. 25)




Die Leipziger Illustrirte Zeitung widmete dem großen Komponisten und dem neuen Denkmal im Sommer 1843 einen zweiseitigen Artikel, der die Bach-Renaissance der Zeit anschaulich beschreibt. Er beginnt mit einer Würdigung Bachs, beschreibt den Festakt und fragt sich schließlich, wie der große Sohn der Stadt in der Zukunft und über die Grenzen der Region angemessen verehrt werden kann. In diesen Zusammenhang ist vor allem sein Schlusssatz eine Verpflichtung. In ihrer Ausgabe vom 8. Juli 1843 war dort zu lesen:
Zu allen Zeiten hat es Geister gegeben, die so weit über ihre Mitwelt hinausragten, dass sie zwar bestaunt und bewundert wurden, aber nicht ganz verstanden werden konnten. … Für sie ist dann früher oder später eine Zeitepoche eingetreten, in welchem ihr Ruhm von Neuem ein lebendiger geworden, in welcher ihre wahre Größe erst wahrhaft erkannt und gewürdigt worden ist. So geschieht es in der Jetztzeit mit Johann Sebastian Bach. Erst in der neusten Zeit haben sich einige Männer, unter ihnen Friedrich Rochlitz (ein Leipziger Theologe, Musikwissenschaftler und Publizist, der im Vorjahr verstorben war) und Mendelssohn Bartholdy, selbst ein würdiger Geistesgenosse Bachs, die Werke des großen Tonmeisters wieder an das helle Licht zu ziehen. (Quelle)
Der Autor stellt den Thomaskantor sodann in einer ausführlichen Biografie vor, die in der Leserschaft offenbar bis dato völlig unbekannt war. Die Zeitung fährt fort:
… da hat Mendelssohn Bartholdy dem Vorvorderen ein sichtbares Zeichen der Anerkennung an dem Orte, wo dieser wirkte und starb, aufgestellt. Dieses besteht in einem Monumente, welches, wenige Schritte von Bachs ehemaliger Kantorenwohnung in dem Gebäude der Thomasschule, enthüllt worden ist. Der edle Stifter hat die Mittel zu diesem Denkmale teils durch eigene zu diesem Behufe veranstaltete Konzerte herbeigeschafft, teils aber auch als edles Opfer für seine Kunst selbst gewährt. Das letzte dieser Konzerte gab dem Tage der Enthüllung des Monuments selbst die Weihe. Es fand unmittelbar vor derselben, vormittags um 11 Uhr, im Konzerthause des Gewandhauses statt. (Quelle)
Darauf folgt eine ausführliche Konzertkritik, die auch die Mitwirkenden nennt: den Konzertmeister des Gewandhauses, Ferdinand David mit einem Violinsolo, den Thomanerchor, das Orchester des Gewandhauses, das sich damals noch in der Leipziger Altstadt befand, sowie Felix Mendelssohn selbst, der ein Klavierkonzert Bachs spielte.
Der Artikel endet weitsichtig und als Auftrag für künftige Generationen:
Erschien die Errichtung eines Monuments an dem Orte seiner Wirksamkeit nur eine örtliche Angelegenheit, so wird auch bald die Zeit kommen, wo man unserem großen Tonmeister ein Nationaldenkmal stiftet, indem man seine Werke sorgfältiger und vollständiger als bisher sammelt und in würdiger Weise ausgestattet, dem kunstliebenden Publikum übergibt. (Quelle)
Literatur und Link:
– Jürgen Ernst, Stefan Voerkel, Christiane Schmidt, Das Leipziger Mendelssohn-Denkmal, hg. vom Mendelssohn-Hauses Leipzig, 2009
– Anno. Historische Zeitungen und Zeitchriften. https://anno.onb.ac.at/
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