Die Titanic hätte umsteuern müssen, bevor sie den Eisberg rammte. Sechs Fragen und fünf Antworten zum Religionsunterricht

Horst Heller
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Die Inhalte des Religionsunterrichts werden von den Religionsgemeinschaften festgelegt. Ist das nicht überholt?
Es kommt darauf an, was wir unter Bildung verstehen. Wenn die Schule nur auf Beruf und Studium vorbereiten müsste, reichten sicher ein paar Informationen zur Kirchengeschichte und ein Überblickswissen über die Weltreligionen. Wenn es beim Lernen nur darum ginge, die besten Plätze in Hochschule und Unternehmen zu ergattern und dort erfolgreich zu sein, dann bräuchten wir weder Religion noch Ethikunterricht. Aber auch Goethes Lyrik, Lateinkenntnisse, Exkursionen in Museen, Schwimmsport und Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ wären nice to have, mehr nicht.
Wenn Bildung aber befähigen soll, in einer vielgestaltigen und sich rasant verändernden Welt Orientierung zu finden und selbstbestimmt einen gelingenden Weg für das eigene Leben zu gehen, dann sind die anthropologischen Inhalte und theologischen Fragen – gut dosiert und auf die Fragen der Lernenden bezogen – unverzichtbar. Religionsunterricht ist Begleitung auf diesem Weg.

Ist Religionsunterricht nicht unerlaubte religiöse Werbung in der Schule?
Nein. Und selbst wenn es so wäre: Die Realität des Religionsunterrichts zeigt, dass die angebliche „Werbung“ nicht verfängt. Junge Menschen nehmen zu Recht für sich in Anspruch, die Antworten auf die großes Fragen ihres Lebens selbst zu finden. Der Religionsunterricht ist ein Angebot, religiöse Aspekte ihres Lebens zu bedenken und sie zu prüfen. Wenn Kinder und Jugendliche aber keine biblischen Geschichten kennen, wenn sie spirituelle Rituale noch nie erlebt und symbolsprachliche Gottesvorstellungen noch nie bedacht haben, können sie über deren Wert für sich selbst nicht nachdenken. Umfassende Bildung schließt religiöse Bildung ein. Sie ermöglicht es, dass Jugendliche und Erwachsene von ihrer Freiheit zur Religion Gebrauch machen.
Es gibt auch eine Freiheit von Religion. Niemand muss am Religionsunterricht teilnehmen und kann ihn jederzeit verlassen, selbst ohne sich erklären zu müssen. Wer es aber ernst meint, dass Kinder und Jugendliche sich selbst entscheiden sollen, darf ihnen die Chance auf religiöse Bildung nicht vorenthalten.

Erfahren denn die Lernenden auch etwas über fremde Religionen?
Ja, das tun sie. Das ist schon allein deshalb wichtig, weil niemand das Eigene wirklich verstanden hat, wenn er über das Fremde nichts weiß. Religiöse Identität bildet sich nicht aus, indem ich Überkommenes übernehme. Sie braucht den Diskurs und den Dialog.

Was tun die Kirchen in diesem Zusammenhang?
Religionsunterricht braucht Vernetzung. Die Kirchen haben eine transparente Begleitstruktur aufgebaut, die meine Kollegin Nadine Glage aus Kaiserslautern stellvertretend für unsere Region auf ihrem Blog beschreibt. Die Kirchen zeigen ihr Gesicht. Nichts geschieht im Geheimen.

Tun die Kirchen dem Religionsunterricht gut?
Das müssen andere entscheiden. Ich selbst sehe Vorteile, aber auch Gefahren. Religionsunterricht in der Schule benötigt einen starken Partner im Hintergrund, der die Lehrpersonen stützt und stärkt. Die kirchliche Präsenz verhindert, dass sie sich allein gelassen fühlen. Sie sorgt für Fortbildung und achtet darauf, dass dem in Grundgesetz und Landesverfassungen verankerten Fach gebührende Achtung geschenkt wird. Religionsunterricht braucht Profil und Standards. Das alles spricht für das Engagement der Kirche.
Doch die kirchlichen Strukturen sind dem Tempo, in der sich Schule und Gesellschaft gerade verändert, nicht immer gewachsen. Die überholten Strukturen der Landeskirchen, Bistümer und kirchlichen Institute stehen seit langer Zeit in der Gefahr, unbeabsichtigt, aber unübersehbar, zum Bremsklotz für die nötigen Neuerungen zu werden. Die behördliche Struktur der Kirchenämter mit ihren Entscheidungswegen, Ausschüssen und Arbeitskreisen ist kurzfristig nicht zu ändern. Umso wichtiger ist es, den Schulen nicht nur Unterstützung, sondern auch Freiheit und Vertrauen zu schenken. Religionslehrpersonen haben von den Kirchen eine Urkunde erhalten, die sie als diplomierte Bevollmächtigte für den Religionsunterricht auszeichnen. Sie wissen was sie tun.
Andererseits: Es gibt eine Reihe Indikatoren, die zeigen, dass unser Fach in Gefahr ist. Die Kirchen können den schulischen Fachschaften zu bedenken geben, dass auf der Bewahrung des Status quo kein Segen liegt. Ohne didaktische und strukturelle Neuerungen kann der Religionsunterricht in einer säkularen Welt bald obsolet werden. Das Steuer muss umgelegt werden, bevor die Babyboomer im Ruhestand sind. Auf meinem Blog habe ich Vorschläge für den Wandel gemacht. Die Titanic hätte den Kurs ändern müssen, bevor sie den Eisberg rammte.

Immer weniger Schülerinnen und Schüler nehmen am Religionsunterricht teil. Reicht da nicht eine Wochenstunde?
Auf keinen Fall. Eine Wochenstunde reicht allenfalls für das oben beschriebene Überblickswissen. Wer unterrichtet weiß, dass in einer Wochenstunde keine Lernprozesse möglich sind, die in die Tiefe gehen. Wird die religiöse Bildung in dieser Weise marginalisiert, geschieht das in gleicher Weise auch mit dem Ethikunterricht. Weniger Wochenstunden für den Religionsunterricht bedeutet zugleich weniger für das Fach Werte und Normen. Dass wir weniger Nachdenken über die großen Fragen des Lebens, die Werte und den Sinn bräuchte, leuchtet mir nicht ein.

Blogbeiträge zum Thema auf www.horstheller.de
04.07.2021: Auf der Bewahrung des Status quo liegt kein Segen. Sechs Gründe für die konfessionelle Kooperation als Normalfall des Religionsunterrichts
22.10.2022: Bibellesen und lernen: Ein Pladoyer für mehr Narrativität im Religionsunterricht der Sekundarstufe
20.02.2022: „Der christliche Glaube bewährt sich in gelebtem, erzähltem und erzählbarem Leben – oder er bewährt sich nicht.“ Wo bitte geht es zu einem mutigen, uneigennützigen und lebensnahen Religionsunterricht?
22.05.2022: Diplomaten, Dolmetscher, Dialogpartner? Religionslehrkräfte und ihre kirchliche Bevollmächtigung. Wie ich es sehe.
06.11.2022: Es regnet in der Karawanserei. Warum ich meiner Kirche und meiner Religion trotzdem treu bleibe
12.02.2023: Die Titanic hätte umsteuern müssen, bevor sie den Eisberg rammte. Sechs Fragen und fünf Antworten zum Religionsunterricht
26.02.2023: „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.“ Aspekte einer zeitgemäßen Schöpfungsdidaktik
04.06.2023: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“ Platons Höhlengleichnis und Gedanken zu Bildung


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