„Wenn ich von Theologie auch nur das Geringste verstehe…“ Ein neunzig Jahre alter Brief von Karl Barth zur Rolle der Frau in der Kirche gibt noch heute zu denken.

Horst Heller
Dieser Beitrag als PDF

Eine unglaubliche, aber wahre Geschichte, die noch dazu fast vergessen ist: Zu Beginn der 1930er Jahre kämpfte die Schweizer Theologin Greti Caprez-Roffler um ihr Recht, als Pfarrerin tätig zu sein. Sie hatte alle Examina bestanden und war rechtmäßig von einer Kirchengemeinde gewählt worden. Dennoch verweigerte ihr der kantonale Kirchenrat die Anerkennung. Der Streit um ihr Frauenpfarramt wurde öffentlich ausgetragen. Auch Karl Barth schaltete sich mit einem offenen Brief in die Debatte ein. Sein Schreiben enthält eine Denkfigur, die in jedem theologischen Diskurs bis heute Beachtung finden sollte.

Die Geschichte, um die es geht
Am 13. September 1931 wurde Greti Caprez-Roffler in Furna im schweizerischen Graubünden zur ersten Pfarrerin Europas gewählt. Sie hatte in Zürich Theologie studiert, geheiratet und hochschwanger das theologische Examen abgelegt. Sie kannte das kleine Bergdorf, weil sie dort oft bei ihrer Großmutter die Ferien verbracht hatte. Sie nahm die Wahl an und bezog mit ihrem Sohn das Pfarrhaus. Ihr Mann arbeitete als Ingenieur in Zürich und konnte nur am Wochenende bei seiner Familie leben.

Mit dem Tag der Wahl begann eine Auseinandersetzung über die Frage, ob das kleine Bergdorf das Recht gehabt hatte, eine Frau zur Pfarrerin zu wählen. Der kantonale Kirchenrat in Chur hielt die Berufung für illegal und verweigerte die Ordination. Doch in Furna war man stolz auf seine Eigenständigkeit, gab der Pfarrerin Rückhalt und zahlte ihr ein Gehalt.

Die Debatte
Der Streit wurde mit großer Schärfe geführt. Die Ausführungen der Gegner des Frauenpfarramts beriefen sich auf das kirchliche und kantonale Recht und bemühten darüber hinaus Argumente, die heute allenfalls noch einen Platz in der Welt des Kabaretts haben: Das Wort Gottes müsse „objektiv“ gepredigt werden, und „Objektivität sei nun ja keine besondere Stärke der Frau“. Der „natürliche Frauenberuf“ sei der Mutterberuf, wenn Frauen berufstätig würden, drängten sie sich in eine Männerdomäne. Doch Greti fand auch Unterstützerinnen und Unterstützer. Gertrud Herrmann, eine Theologin und frühere Schülerin des schweizerischen Theologen Karl Barth, der zu dieser Zeit in Bonn lehrte, verteidigte in der Kirchenzeitung des Kantons die Entscheidung der Gemeinde. Frauen seien ein Geschöpf Gottes, insofern könnten ihnen Aufgaben zufallen, die früher Männern vorbehalten gewesen seien.

Das wollte der Herausgeber der Zeitung, Pfarrer Wilhelm Kolfhaus nicht unwidersprochen stehen lassen. „Das Weib schweige in der Gemeinde“ zitierte er die berühmte Stelle aus dem Ersten Korintherbrief. Biblische Weisungen sowie kirchliche und staatliche Regeln sprächen gegen Greti, führte er aus. Es sei offensichtlich, dass sie keinesfalls einer göttlichen Berufung folge, sondern nur ihren eigenen Wünschen, und das mit einer „nur bei Frauen zu findenden Hartnäckigkeit“.

Karl Barth greift zur Feder
Von diesem Streit in der Kirchenzeitung erfuhr Karl Barth. Im Juni 1932 richtete er einen offenen Brief an die Kirchenzeitung, Er begann ironisch, kam aber sofort zur Sache:

 „Sehr verehrter Herr Pastor! Wenn ich von Theologie auch nur das Geringste verstehe … [hätten Sie] ihr nicht so antworten dürfen. … Sollte Renitenz gegen eine Kirchenbehörde nicht mindestens auch zu den Dingen gehören, die nach der Schrift gelegentlich höchst geboten sein können? … Und ist es Ihnen andererseits nicht erinnerlich, mit welcher strammen biblischen Begründung einst die Theologen der amerikanischen Südstaaten die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der Sklaverei zu verteidigen wussten?“
Wer Frauen nicht auf der Kanzel sehen wolle, sei versucht, darin ein göttliches Gebot zu sehen. Er warnte davor, menschliche Ideen mit Hilfe von Bibelstellen zu rechtfertigen. „Seit bald elf Jahren habe ich nun manche Theologiestudentin in einiger Nähe an mir vorbeiziehen sehen. … Ob diese Mädchen und Frauen Gott gehorsam oder ungehorsam sind, wie sollte ich darüber entscheiden können?“ Er wolle „mit dem besten Willen und bei allem Respekt“ nicht darüber urteilen, ob „in Furna das Gesetz Gottes übertreten“ worden sei. Seinen offenen Brief beschloss er „in aufrichtiger Verbundenheit mit freundlichem Gruß. Ihr Karl Barth“

Nach dreißig Jahren am Ziel
Es half nichts. Nach zwei Jahren musste Greti, die über Selbstzweifel nicht erhaben war, Furna verlassen, weil ihr die Gemeinde ohne Unterstützung des Kirchenrats kein Gehalt mehr zahlen konnte. Doch glaubte sie weiter an ihre Berufung. Sie war sich sicher, dass es weder theologisch noch seelsorgerlich vertretbar war, Frauen weiterhin vom Pfarramt auszuschließen. Doch erst Jahrzehnte später änderte die kantonale Synode die Regeln. Im Jahr 1963, über dreißig Jahre nach ihrem theologischen Examen, wurde Greta ordiniert. Drei Jahre später wurde sie, die nach ihren Jahren in Furna lange Zeit nur ehrenamtlich tätig gewesen war, wieder zur Pfarrerin gewählt, diesmal in Nufenen und Hinterrhein in der Bergwelt Graubündens. Und schließlich schloss sich der Kreis. Mit 64 Jahren wurde sie – zusammen mit ihrem Mann, der inzwischen auf dem zweiten Bildungsweg auch Pfarrer geworden war – nochmals Pfarrerin in Furna, diesmal ganz offiziell und legal.

… und jetzt?
Seit den 1960er Jahren hat der Anteil der Frauen im evangelischen Pfarramt stetig zugenommen und das Berufsbild der Pfarrperson verändert. Längst ist der Beruf familienfreundlicher, flexibler und offener für Teilzeitmodelle geworden. Und offenbar stehen wir erst am Beginn einer umfassenden Transformation kirchlicher Arbeit. Wo Frauen an entscheidender Stelle mitbestimmen, ändert sich nicht nur die Farbe der Talare.

In der evangelischen Kirche ist die Ordination von Frauen deshalb nicht mehr umstritten. Andernorts ist die Debatte um die Rechte und die Rolle der Frau aber noch im vollen Gange. Der offene Brief Karl Barths an die kantonale Kirchenzeitung ist dieser Tage 90 Jahre alt geworden. Zwar stellte er sich nicht eindeutig auf Gretis Seite, mahnte aber ihre Kritiker zu mehr Bescheidenheit. Seine Unterscheidung zwischen menschlichen und göttlichen Geboten wurzelt tief in seiner Theologie. Er mahnte, eigene Ideen nicht mit der göttlichen Ordnung zu verwechseln und bei abweichenden Meinungen nicht vorschnell zu urteilen. Ein in der Tat bedenkenwerter Ratschlag.

Text: Horst Heller CC BY-SA 4.0
Bildnachweise: Karl Barth: Karl-Barth Archiv Basel; alle anderen: gemeinfrei

Literatur und Links:
Christina Caprez: Die illegale Pfarrerin. Das Leben von Greti Caprez-Roffler (1906–1994). Zürich 2019
Christina Caprez, Die illegale Pfarrerin. Wie Greti Caprez-Roffler Geschichte schrieb. https://zeitzeichen.net/node/8053
Greti Caprez-Roffler, die erste Pfarrerin. Radio SRF 2 Kultur Passage, 2015

Blogbeiträge auf www.horstheller.de
14.06.2020: Allein auf einer einsamen Insel – Was würdest du mitnehmen? Nachdenken über das Glück
05.09.2021: „We never knew what friends we had until we came to Leningrad.” – Menschlichkeit ist möglich, sobald es zu Feindschaft erzogenen Menschen ermöglicht wird, einander zu begegnen.
23.01.2022: „Wir wissen, dass der Mensch im Grunde gut ist.“ Wie Desmond Tutu die christliche Anthropologie vom Kopf auf die Füße stellte.
13.03.2022: Frieden lehren. Wenn wir wollen, dass künftige Politiker friedensfähige Menschen sind, müssen wir heute damit beginnen.
05.06.2022: Das Tuch vor den Augen. Eine Pfingstpredigt ändert nicht die Welt, aber sie kann die Augen öffnen für die Freiheit und Selbstbestimmung anderer.
19.06.2022: „Wenn ich von Theologie auch nur das Geringste verstehe…“ Ein neunzig Jahre alter Brief von Karl Barth zur Rolle der Frau in der Kirche gibt noch heute zu denken.
26.06.2022: Ohne die katholische Kirche wäre Rom heute eine unbedeutende Kleinstadt, behauptete einst mein Lateinlehrer. Warum er Unrecht hatte
30.10.2022: Benedikt und andere Heilige. EIne evangelisch-religionspädagogische Überlegung
01.01.2023: Was glaubst du? Drei Theologen suchen nach neuen Worten. Ein Credo-Trialog