Horst Heller (CC BY-SA 4.0)
Dieser Beitrag als PDF



Konnte Bartimäus wieder sehen, nachdem er Jesus begegnet war? Das weiß ich nicht. Ich war nicht dabei. Der Evangelist Markus, der von seiner Heilung erzählt, war auch nicht dabei. Doch er nennt den Namen des Blinden aus Jericho. Möglich, dass ihm selbst oder seinen Leserinnen und Lesern der Name Bartimäus noch etwas sagte.
„Das gibt’s doch gar nicht!“ Zweifel sind normal.
Ich weiß es also nicht. Aber es passt zu meinem Jesusbild, dass er Kranke heilen konnte. Doch viele sehen das anders. Sie können nicht glauben, dass Jesus einem Blinden das Augenlicht zurückgeben konnte. Die Skepsis gegenüber allem Mirakulösem ist kein Phänomen unserer Tage. Entgegen dem Klischee war auch die Antike bei angeblichen Wundern keineswegs leichtgläubig. Sie widersprachen – nicht anders als heute – den Erfahrungen des Alltags. Waren die Zweifel aber ausgeräumt, trat an ihre Stelle ein unermessliches Staunen. Letztlich ist das nicht so anders als heute. Wir halten Wunder eigentlich für ausgeschlossen, aber wenn uns selbst Wunderbares widerfährt, dann suchen wir nach Erklärungen. Oft genug finden wir keine.
Die Frage: Hat Jesus Kranke geheilt? Im Religionsunterricht früherer Jahre war nur eine Antwort erlaubt.
Manche Menschen haben geheimnisvolle diagnostische und therapeutische Fähigkeiten. Das bestreiten nur wenige. Aber das beantwortet nicht die Frage, ob Jesus über solche Kräfte verfügte. Vor wenigen Jahrzehnten hätte es auf diese Frage nur eine „richtige“ Antwort gegeben: Jesus konnte durch die Kraft Gottes heilen – und er tat es. Wer daran Zweifel äußerte, der hatte das Christliche noch nicht verstanden oder es fehlte ihm am rechten Glauben. Das ist heute zum Glück anders. Wunderskepsis kann unterrichtlich sogar wertvoll sein. Didaktisch entscheidend ist auch nicht, ob Bartimäus vor der Stadt Jericho sein Augenlicht zurückerhielt. Denn Schülerinnen und Schüler werden sagen: „Damals vielleicht konnte Jesus Menschen heilen, aber heute gibt es das nicht mehr.“
Schauen wir genauer hin! Ein paar Anmerkungen zur Geschichte
Markus erzählt, dass Bartimäus an der Straße bettelte, die Jesus nahm, als er Jericho wieder verließ. Die meisten Erzähltexte schließen daraus, dass er dort täglich saß, ja, dass er keine Wohnung hatte und auf der Straße übernachtete. Ich habe ein anderes Bild von Bartimäus. Er war zielstrebig und wusste, auf welcher Straße Jesus seine Reise in die Hauptstadt fortsetzen würde. Deshalb hatte er an diesem Tag dort Platz genommen, um ihn zu erwarten.
Die Wendung seines Lebens beginnt schon, bevor Bartimäus Jesus gegenübersteht.
Als Mensch mit Behinderung ist Bartimäus kein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft von Jericho. Als er laut nach Jesus ruft, wird er deshalb ermahnt, die Prozession der Gesunden nicht zu stören: „Sei still! Du störst.“ Erst als Jesus auf ihn aufmerksam wird, ändert sich das Bild. Die Ablehnung wandelt sich in Trost und Ermutigung: „Er ruft dich. Geh zu ihm! Das ist dein Tag!“.
Bartimäus ist nicht hilflos.
Markus erzählt, dass Bartimäus zwar nicht sehen kann, aber er kann laufen. Er muss nicht geführt werden. Er springt auf und findet sein Ziel, denn er kann sich trotz seiner Erblindung orientieren. Er hat noch vier andere Sinne, die möglichweise besser ausgebildet sind als bei Sehenden. Ein Mensch mit Beeinträchtigung ist nicht bedauernswert oder lebensunfähig.
Die Wunderkraft Jesu wirkt nicht ohne das Vertrauen.
Der Dialog zwischen Jesus und Bartimäus erinnert an ein Gespräch im Behandlungszimmer eines Arztes. „Was kann ich für dich tun?“ – „Ich möchte wieder sehen.“ – So könnte ein Arztgespräch beginnen. Doch Jesus antwortet: „Geh nur, dein Glaube hat dich gerettet.“ – Was hat Bartimäus am Ende geholfen? Der Bibeltext deutet es an: Es war die Kombination aus der spirituellen Kraft Jesu und dem unbedingten Vertrauen des Bartimäus in ihn.
Bartimäus folgt Jesus, der nach Jerusalem geht, wo er verhaftet und getötet wird.
Vor die Heilungsgeschichte hat Markus ein Wort Jesu zu seinem Sterben gestellt (Mk 10,45). Und als Jesus weiterzieht, führt ihn sein Weg nach Jerusalem (Mk 11,1 ff.), die Stadt, die er lebend nicht mehr verlassen. Er wird dort verhaftet, verurteilt und hingerichtet. Markus erzählt, dass Jesus zu Bartimäus sagt: „Geh nur!“ Er entlässt Bartimäus. Aber Bartimäus folgt ihm – auf seinem Weg des Leidens. Alle, die Jesus folgen, sollten das wissen. Darauf legt Markus Wert.
Ist die Erzählung von Bartimäus also überhaupt eine Wundergeschichte?
Ja, aber nicht nur. Wir lesen die Bartimäus-Geschichte und denken unwillkürlich: „Wow! – Eine Wundergeschichte!“ Doch sie erzählt auch davon, dass ein Mensch fest an sein Glück glaubt und es im richtigen Moment beim Schopf packt. Sie erzählt, dass er, der Ablehnung erfahren hat, nun Teil einer neuen Gemeinschaft wird, weil Jesus seine Ausgrenzung nicht hinnimmt. Die Erzählung von der Heilung ist zugleich eine Weg-, eine Vertrauens-, eine Begegnungs-, eine Nachfolge- und eine Reich-Gottes-Geschichte.
Die Evangelien sind voller Wundererzählungen, in der Tat eine religionspädagogische Herausforderung. Aber oft stehen nicht die Heilungen im Mittelpunkt des Erzählten, sondern die Kontroverse, die sie auslösen. Wenn Kranke am Sabbat zu Jesus gebracht werden, stellen sich schwierige Fragen. Wer heilt, der arbeitet als Arzt: Für jede Arbeit gilt aber das Gebot der Sabbatruhe. Was ist nun wichtiger, die Hilfeleistung oder das Sabbatgebot? Es ist eine religionspädagogische Verengung, bei der Beschäftigung mit Wundererzählungen vorschnell und hauptsächlich das mögliche Wunder zu thematisieren. Eine Unterrichtsreihe mit mehreren Wundergeschichten aus unterschiedlichen Evangelien ist ganz und gar abwegig!
Und schließlich: Die Sache mit dem Mantel
Markus erzählt, dass Bartimäus seinen Mantel abwirft, bevor er zu Jesus läuft. Das wird in Predigten und Meditationen manchmal spirituell gedeutet: Bartimäus entledigt sich dessen, was an sein bisheriges Leben erinnert, ist da zu lesen. Er lässt seinen ganzen Besitz zurück, denn mehr als dieses eine Kleidungsstück besitzt er nicht, sagen andere. Solche Auslegungen sind zulässig, doch mich überzeugen sie nicht. Markus Schreibstil ist konkret und ähnelt einer mündlichen Erzählung. Deshalb erwähnt er den Mantel. Er stört. Wenn Bartimäus aufspringt und zu Jesus eilt, dann muss er sich seines Obergewands entledigen, denn es ist beim Rennen hinderlich.
Die einen haben keine Zweifel: Jesus konnte das. Andere glauben das nicht. Was tun? Ein didaktischer Vorschlag
Schülerinnen und Schüler, die daran glauben, dass vor der Stadt Jericho ein medizinisches Wunder geschehen ist, will unser Unterricht nicht verunsichern. Es muss aber sein Ziel sein, dass auch solche Lernende einen Zugang zur Geschichte finden, die an eine Heilung nicht glauben können. Alle sollen Neues entdecken können. Unsere Überlegungen beginnen am Ende der Geschichte.

Wir erzählen die Geschichte so: Als der fröhliche Bartimäus Jesus folgt, wollen die Umstehenden verstehen: Was ist der Grund für diese Wende und dIesen Aufbruch? Als Zugang wählen wir die Perspektive eines Menschen, der – wie Markus – erzählt, ohne Augenzeuge des entscheidenden Moments gewesen zu sein: Eine große Menschenmenge hat das Rufen des Blinden gehört. Auch dass Jesus ihn zu sich kommen lässt, hat sie beobachtet. Den Dialog zwischen Jesus und Bartimäus aber haben nur die gehört, die unmittelbar neben beiden standen. Der Erzähler gehört nicht dazu. Er ist nur – zusammen mit allen Umherstehenden – Zeuge der Veränderung des Bartimäus. Der für die Lebenswende des Blinden entscheidende Moment bleibt in der Erzählung eine Leerstelle. Sie wird von den Lernenden gefüllt. Hat Bartimäus neue Freunde gefunden? Konnte er ein neues Leben beginnen? Oder ist sein Wunsch nach Heilung in Erfüllung gegangen? Eine oder mehrere dieser Erklärungen sind möglich.
Bartimäus – Der Erzähltext
In Jericho lebt ein Mann, der heißt Bartimäus. Heute sitzt er am Straßenrand. Menschen, die die Stadt verlassen und Richtung Jerusalem reisen, begegnen ihm. Er trägt eine Augenbinde, denn er ist blind. Dafür hat er eine feine Nase. Er kann zum Beispiel Lebensmittel am Geruch erkennen. Und er kann spüren, was die Menschen denken, die an ihm vorbei gehen. Er spürt genau, dass einige Menschen, die an seinem Platz vorbeilaufen, denken: „Der ist gehört nicht zu uns dazu.“ Bartimäus spürt das. Er ist allein.
Es sind viele Menschen auf der Straße. Jesus verlässt die Stadt. Die Menschen von Jericho wollen ihn nochmal sehen und ihn eine Stück seines Wegs begleiten. Niemand achtet auf Bartimäus. Doch Bartimäus spürt, dass jetzt seine Chance gekommen ist. „Jesus!“, ruft er ganz laut, „Jesus! Hallo!“
Nun drehen sich die Leute zu ihm um. Nun sehen sie ihn an. „Sei still! Du störst!“, sagen sie. Aber Bartimäus gibt nicht auf: „Jesus! Hallo! Hier bin ich!“ Es ist laut auf der Straße. Aber Jesus hört ihn. „Ruft ihn her!“, sagt er.
Jetzt reden die Leute anders mit ihm. „Er ruft dich. Geh zu ihm! Das ist dein Tag!“
Bartimäus springt auf. Er weiß, wo Jesus steht. Dort muss er hin. Er wirft seinen Mantel weg. Er wühlt sich durch und steht schließlich vor Jesus.
Jesus fragt: „Was kann ich für dich tun?“ „Ich will wieder sehen können“, antwortet Bartimäus. Und Jesus sagt: „Geh nur, dein Glaube hat dich gerettet.“
‚
Nur die, die ganz vorne stehen, haben das gehört. „Was hat Jesus gesagt?“, fragen Menschen weiter hinten einander. „Was ist mit Bartimäus? Hast du was gesehen?“ wollen sie wissen. Haben die Menschen, die näher dran sind, etwas mehr gesehen? „Nein, nichts. Ich konnte nichts erkennen.“
Dann geht Jesus weiter. Manche gehen mit ihm, andere laufen zurück in die Stadt. Bartimäus geht mit Jesus. Er sieht glücklich aus. Die Menschen wundern sich sehr.
Der Erzähltext lässt das Wunder gelten, macht es aber nicht zur Voraussetzung der Deutung der Geschichte.
Was ist im entscheidenden Moment geschehen? Die Schülerinnen und Schüler entscheiden selbst, was die Veränderung in Bartimäus ausgelöst hat. Die Lücke, die ihnen der Erzähltext anbietet, füllen sie mit dem, was zu ihrem Jesusbild passt.

Eine Unterrichtsreihe zu Bartimäus, die diesen didaktischen Grundsatz umsetzt, findet sich auf my.relilab.org
Blogbeiträge zum Thema auf www.horstheller.de
22.09.2019: Will Gott, dass wir an ihn glauben. Die Gottesfrage und die Bielefeld-Verschwörung
22.08.2021: Rut und Noomi: 2 Frauen, 5 Episoden, 8 Einsichten. Eine biblische Geschichte von Leid, Klugheit und Solidarität
24.10.2021: Bibel lesen und lernen. Ein Plädoyer für mehr Narrativität im Religionsunterricht der Sekundarstufe
02.01.2022: „Ich bin da.“ Ein Name aus vier Buchstaben ist ein Geheimnis und zugleich eine Offenbarung. Gedanken zur biblischen Geschichte von Mose (1)
28.08.2022: Abraham und Sara – Acht Episoden und religionspädagogische Überlegungen zu Wüste, Segen und Gottes Stimme
30.10.2022: Benedikt und andere Heilige. EIne evangelisch-religionspädagogische Überlegung
01.01.2023: Was glaubst du? Drei Theologen suchen nach neuen Worten. Ein Credo-Trialog
08.01.2023: „Das gibt’s doch nicht!“ Die Geschichte von Bartimäus als religionspädagogische Herausforderung
26.02.2023: „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.“ Aspekte einer zeitgemäßen Schöpfungsdidaktik