„Mein Gott ist bei mir. Ich seh‘ ihn nicht, versteh‘ ihn nicht. Und trotzdem ist er hier.“ Warum die Erzählung von Josef bis heute Menschen anrührt und was wir von ihr lernen können.

Horst Heller (CC BY-SA 4.0)
Erzähltext: Nadine Klimbingat, Horst Heller (CC0)
Bilder: Jan P. Grünjes (CC BY-SA 4.0)
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Ein Vater, vier Mütter, zwölf Söhne und mehrere Schwestern – das gibt es bei uns nicht mehr. Ein Leben in der Wüste ist uns ebenso wenig geläufig wie das Innere eines Gefängnisses oder die Pflichten und Rechte am Hof eines Pharao. Selbsternannten Traumdeutern begegnen wir mit Skepsis. Hungersnöte mussten wir bislang nicht erleiden. Der Erzählzyklus „Josef und seine Brüder“ spielt in einer fremden Welt und einer fremden Zeit. Und doch – oder gerade deshalb – regt er unsere Fantasie an. Denn er enthält ungewöhnlich viele Aspekte, die Menschen jeden Alters mit eigenen Erfahrungen verknüpfen können. Von einer vermeintlichen oder echten Bevorzugung der Geschwister, von einer ungerechten Bestrafung, von Angst, Hoffnung, Streit, Reue, Tränen und Versöhnung in ihrem Leben kann jede und jeder vielfach und variantenreich erzählen. Auch Kinder kennen Gefühle des Neides, der Angst, der Trauer, der Wut, des Mutes und des Glücks und können sie beschreiben.

Die Geschichte von Josef ist nicht für Kinder, sondern für Erwachsene aufgeschrieben worden. Diese allerdings sollten sie an ihre Familienmitglieder weitergeben. Das geschah. Großeltern erzählten sie ihren Enkeln, in der Synagoge wurde sie vorgelesen, fromme Menschen sprachen darüber und legten sie aus. Und es geschieht bis heute. Über Josef und seine Brüder nachzudenken hat eine lange Tradition. In die Tradition derer, die vor uns die Geschichte gehört, bedacht, ausgelegt und weitergegeben haben. Sie bietet Spannung, Dramatik und ein versöhnliches Happy End. Sie beginnt mit den vier Frauen Lea und Rahel sowie deren Mägden Silpa und Bilha. (Von den Frauen ist in dieser Geschichte – leider – kaum die Rede, doch es gab auch sie. Dazu später mehr.) Sie sind die Mütter der Geschwister, Jakob ihr Vater. Josef ist der zweitjüngste der Söhne. Seine Mutter Rahel ist bei der Geburt von Josefs jüngerem Bruder Benjamin gestorben. Die Söhne der Rahel liegen dem Vater besonders am Herzen. Das führt zur Bevorzugung Josefs gegenüber seinen Geschwistern. Diese Ungerechtigkeit weckt den Neid der Brüder, die als Hirten arbeiten.

Vorherrschende Farbe: gelb, vorherrschendes Gefühl: Neid

aus Episode 1 des Erzähltextes: Josef wohnt mit seiner Familie im Land Kanaan. Sein Vater heißt Jakob, seine Mutter Rahel ist gestorben. Josef hat viele Geschwister. Sie sind fast alle älter. Nur sein Bruder Benjamin, ist jünger als er. Seine Familie bebaut das Land und hütet ihre Herden. Nicht immer gibt es genug Weideland. Dann müssen seine Brüder weit wandern und in Zelten bei ihren Herden übernachten. Auch Josef arbeitet als Hirte und er hilft seinen älteren Geschwistern bei ihrer Arbeit.
Jakob hat alle seine Kinder lieb. Aber er macht Unterschiede. Am Abend darf Josef immer neben seinem Vater sitzen. Seine älteren Brüder sehen das genau.

Der Bibeltext bietet so viele meisterhaft erzählerische Mittel, dass es sich anbietet, beim Verfassen des Erzähltextes sehr nah am Original zu bleiben. Es wird deshalb (fast) keine Episode des Erzählbogens ausgelassen. Der Erzählvorschlag verkürzt nicht und verzichtet nur auf solche Elemente, die auch im biblischen Erzählkontext als Exkurs gekennzeichnet sind oder den vorangegangenen Erzählzyklus des Jakob zu Ende führen. Allein die Träume des jungen Josef und die Deutung der Träume der Mitgefangenen werden aus didaktischen Gründen ausgespart.

aus Episode 1 des Erzähltextes: Josefs Brüder sind mit ihren Herden wieder unterwegs. Nachts schlafen sie bei den Tieren im Freien. Josef ist nicht bei ihnen. Er ist beim Vater geblieben.
Da ruft Jakob: „Josef, komm her!“ Josef läuft zu seinem Vater und antwortet: „Hier bin ich.“ „Deine Brüder sind weit weg.“, sagt Jakob. „Und ich weiß nicht, wie es ihnen und den Tieren geht. Mach dich auf den Weg zu ihnen! Bring ihnen Essen und Wasser! Und wenn du mit ihnen gesprochen hast, dann komm zurück und berichte mir!“
Josef macht sich auf den Weg. Es ist eine lange Reise. Seine Brüder erkennen ihn schon von weitem. Denn er trägt das bunte Gewand. Einer der Brüder sagt: „Da kommt er! Wir wollen ihn töten. Und unserem Vater sagen wir: ‚Ein wildes Tier hat ihn angefallen.‘“ Ein anderer widerspricht: „Nein, das können wir nicht tun. Wir werfen ihn hier in den ausgetrockneten Brunnen.“
Als Josef zu seinen Brüdern kommt, grüßen sie ihn nicht. Sie halten ihn fest und ziehen ihm das Gewand aus. Sie werfen ihn in den ausgetrockneten Brunnen. Dann setzen sie sich und essen und trinken, was Josef ihnen mitgebracht hat.

Gleich zu Beginn der Erzählung findet sich Josef in einer ausweglosen Situation. Von seinen Brüdern wird er in einen trockene Zisterne geworfen. Auch wenn der biblische Erzähltext an dieser Stelle nicht von der Gegenwart Gottes spricht, so erlauben doch der Duktus der Erzählung und sein Schluss, das Gefühl der Angst um sein Leben durch die Erinnerung an Gottes Gegenwart zu entschärfen. Die Erzählvorlage sieht vor, dass sich Josef an Gespräche mit seinem Vater erinnert, der ihm von Gott gesagt hatte: „Du siehst ihn nicht, verstehst ihn nicht, doch trotzdem ist er hier.“ Mit einem solchen Satz werden auch Gottesvorstellungen aufgenommen, die Kinder und Erwachsene so oder ähnlich formulieren.

aus Episode 2 des Erzähltextes: Der ausgetrocknete Brunnen ist tief. Josef hat Angst. Allein kommt er da nicht heraus. Josef muss weinen. Da erinnert er sich an Worte des Vaters.

Josef wird gerettet, aber er muss mit einer Karawane nach Ägypten ziehen, wo er als Sklave verkauft wird. Um ihre Tat vor dem Vater zu verbergen, nehmen sie das bunte Gewand, den Stein des Anstoßes, tränken es mit Tierblut und lassen es einen Knecht zu ihrem Vater bringen. Es wird ihm wortlos überreicht. Einer ausdrücklichen Lüge bedarf es nicht, und doch können die Brüder sicher sein, dass Jakob die richtigen (in Wahrheit: die falschen) Schlüsse zieht.

Vorherrschende Farbe: violett. Vorherrschendes Gefühl: Trauer.  

aus Episode 3 des Erzähltextes: Jakob wartet zu Hause. Einer seiner Knechte kommt und legt das blutverschmierte Gewand vor Jakob auf den Boden. Da weint Jakob und sagt: „Das ist Josefs Gewand. Ich erkenne es. Sicherlich war es ein wildes Tier. Es hat ihn angefallen und getötet. Ich werde nie wieder glücklich sein.“

Die biblische Erzählung macht mehrfach deutlich, dass Jakob Söhne und Töchter hatte. Dass der Erzählkranz sich allein um die Konflikte der männlichen Mitglieder der Familie windet, darf in der Erzählung nicht verändert werden. Doch die Töchter Jakobs werden nicht unterschlagen. Es ist sinnvoll, an denjenigen Stellen von den Schwestern Josefs zu sprechen, wo der Bibeltext dies auch tut.

aus Episode 3 des Erzähltextes: Nach langer Zeit kehren auch die Brüder mit den Tieren zurück. Sie reden Jakob gut zu. Auch die Schwestern kommen zu ihrem Vater, aber er will sich nicht trösten lassen. Was sie Josef angetan haben, sagen die Brüder nicht.

Wie erzählt man Kindern die Geschichte von Potifars Ehefrau? Die Herrin möchte von ihrem Recht Gebrauch machen, einen Sklaven nach Gutdünken und für die Befriedigung eigener Bedürfnisse einzusetzen. Das schließt auch eine Affäre mit ihm ein. Ein Sklave wiederum hat nicht das Recht, sich den Wünschen der Herrin zu verweigern. Indem der biblische Erzähler sich aber auf Josefs Seite stellt, macht er deutlich, dass er den Protagonisten nicht als rechtlosen und unbotsamen Diener ansieht, sondern als frommen jungen Mann, der sich den Avancen einer verheirateten Frau mit gutem Recht entzieht. Das wird ihm aber Ärger einbringen, denn Ungehorsam eines Sklaven kann nicht geduldet werden.

aus Episode 4 des Erzähltextes: Potifars Frau schaut Josef gern zu, wenn er arbeitet. Oft spricht sie ihn an und redet mit ihm. Eines Tages, als niemand im Haus ist, sagt sie zu Josef: „Komm in mein Schlafzimmer!“ Aber Josef antwortet: „Nein, das darf ich nicht.“ Er will weglaufen. Doch die Frau hält ihn an seinem Gewand fest. Josef reißt sich los. Da hat die Frau den Stoff in der Hand. Josef rennt aus dem Haus. Er hat nur Unterwäsche an. Potifars Frau ruft die Dienerinnen und Diener zu sich. Sie zeigt ihnen das Gewand, das sie in der Hand hält und erzählt ihnen die Geschichte so: „Josef, unser Diener, hat sein Gewand ausgezogen und ist in mein Schlafzimmer gekommen. Ich habe laut geschrien. Da ist er aus dem Haus gerannt.“

Es spielt keine Rolle, ob Potifar Josef glaubt oder nicht. Gibt es einen Konflikt zwischen einem Diener und seiner Herrin, kann das Recht nur auf Seiten der Höherstehenden liegen. Josef wird ins Gefängnis des Pharao geworfen. Dort könnte der Protagonisten den Rest seines Lebens verbringen. Werden sich die Türen je wieder öffnen? Erst im Rückblick wird deutlich, dass Josefs Schicksal in Gottes Hand liegt und einem geheimen Drehbuch folgt. Das Unrecht, das Josef widerfährt, ist nötig, damit Jakob und seine große Familie schließlich gerettet werden. Deshalb ist es didaktisch auch gestattet, in Ergänzung der biblischen Erzählung ein weiteres Mal eine Erinnerung an den Glauben des Vaters einzuflechten. „Mein Gott ist bei mir.“

aus Episode 4 des Erzähltextes: Am Abend kommt Potifar. Er sieht das Gewand. „Wo ist Josef?“ fragt er. Seine Frau erzählt ihm ihre Geschichte. Da wird Potifar zornig. Er schickt Männer aus, die Josef suchen. Sie finden ihn und nehmen ihn gefangen. Josef wird in das königliche Gefängnis geworfen. Dort ist es dunkel. Josef ist verzweifelt und wütend. Wie ungerecht das doch ist! Da denkt er wieder an seinen Vater und erinnert sich an seine Worte.

Da wird der Pharao selbst auf den Gefangenen aufmerksam und ruft ihn zu sich. Er hat gehört, dass Porifars ehemaliger Sklave die Gabe besitzt, Träume zu deuten. Wieder hat Josef keine Wahl, als sich der Herausforderung zu stellen. Er erscheint vor dem Thron. Sein Schicksal steht auf Messers Schneide. Überzeugt seine Traumdeutung, kann er auf Freiheit, Ehrung und Aufstieg hoffen. Enttäuscht er hingegen, muss er mit dem Tod rechnen.

Vorherrschende Farbe: orange: Vorherrschendes Gefühl: Mut

aus Episode 5 des Erzähltextes: Kein Traumdeuter im ganzen Land kann erklären, was Träume des Pharao bedeuten. Er lässt Josef rufen. „Ich habe gehört, dass du meinen Traum deuten kannst.“
Der Pharao erzählt ihm zwei Träume aus derselben Nacht: „Am Ufer des Flusses weideten sieben Kühe. Sie waren gutgenährt. Dann tauchten plötzlich sieben magere Kühe aus dem Wasser des Flusses auf. Noch nie habe ich hässlichere Kühe in Ägypten gesehen. Sie fraßen die schönen Kühe auf, aber danach waren sie so mager wie zuvor. Dann wachte ich auf. Als ich wieder eingeschlafen war, sah ich im Traum sieben Ähren mit dicken Getreidekörnern. Doch aus dem Boden wuchsen noch einmal sieben Ähren, aber in ihnen waren keine Körner. Die sieben dürren Ähren verschlangen die sieben dicken. Das sind meine beiden Träume, Josef. Und nun sage mir, was sie bedeuten.“
Josef sieht hinauf zum Thron des Pharao. Er antwortet: „Die beiden Träume bedeuten das Gleiche: Gott schickt dem Pharao eine Warnung. Es kommen jetzt sieben Jahre mit reichen Ernten, in denen alle Menschen satt werden. Es wird mehr Milch und Brot geben, als die Ägypter trinken und essen können. Danach kommen sieben Jahre Hungersnot. Keine Ernte, kein Brot, nichts wird es geben. Die Menschen werden sagen: Pharao, gib uns Brot zu essen! Deshalb“, fährt Josef fort, „baue viele Lagerhäuser und sammle dort das Getreide der guten Jahre. Wenn die Hungersnot kommt, werden die Menschen sagen: ‚Wir haben nichts zu essen. Wie gut, dass der Pharao Vorräte für uns hat.‘“

Wieder wendet sich das Geschick Josefs. Der Pharao macht ihn zu seinem Stellvertreter und Manager der Vorbereitungen und Linderung der erwarteten Hungersnot. Er beschenkt ihm mit einem neuen Gewand und einer Kette. Zusätzlich hat der Erzähltext den beiden Geschenken ein drittes hinzugefügt. Es wird im Verlauf der Geschichte noch von Bedeutung sein und wird aus didaktischen Gründen hier eingeführt.

aus Episode 5 des Erzähltextes: Der Pharao sagt: „Du musst nicht zurück ins Gefängnis. Bereite alles vor, wie du es gesagt hast. Ich kann keinen Klügeren dafür finden als dich, Josef. Alle Ägypter sollen dir gehorchen. Nur mein eigener Thron ist höher als deiner.“ Er schenkte ihm ein neues Gewand, eine goldene Kette und einen silbernen Trinkbecher.

Die Hungersnot kommt, und sie kommt auch nach Kanaan. Jakob, hochbetagt, verlangt von seinen Söhnen, dass sie nach Ägypten ziehen und dort Getreide kaufen. Einzig Benjamin, der vermeintlich einzige noch lebende Sohn seiner geliebten Rahel darf die gefährliche Reise nicht mitmachen und muss beim Vater bleiben. Die Brüder tun, wie sie geheißen werden. Dem Vater wird nicht widersprochen. In Ägypten treffen sie auf ihren Bruder Josef, der höchstpersönlich den gewinnbringenden Verkauf der Getreidevorräte verwaltet. Als der seine Brüder erkennt, sie ihn aber nicht, muss er weinen – und nachdenken. Denn nun hat er die Wahl. Soll er seinen Brüdern heimzahlen, was sie ihm angetan haben, oder erkennt er den verborgenen Sinn hinter seinem gewundenen Weg? An dieser Stelle hält der Erzähltext inne und gibt den Hörerinnen und Hörer Zeit, gemeinsam mit Josef nachzudenken. Vergeben oder Vergelten, was soll er tun?

Vorherrschende Farbe: braun. Vorherrschendes Gefühl: Nachdenklichkeit

aus Episode 6 des Erzähltextes: Als die Brüder zu Josef kommen, erkennt er sie sofort. „Das sind meine Brüder!“, sagt er ganz leise zu sich selbst. „Aber sie merken nicht, wer ich bin. Was soll ich tun?“ Er muss nachdenken.

Der Fortgang der Geschichte ist kompliziert. Die Brüder Josefs reisen mehrfach von Kanaan nach Ägypten und zurück. Sie rätseln über das Verhalten des Mannes, den sie als ihren Bruder nicht erkennen. Auch der Leser darf ein wenig grübeln, was Josefs Motiv ist, seine Identität so lange nicht preiszugeben. Der silberne Becher spielt nun eine wichtige Rolle.

aus Episode 7 des Erzähltextes: Josef fragt: „Woher seid ihr?“ Sie antworten: „Wir sind aus dem Land Kanaan gekommen, um Getreide zu kaufen.“ „Ich glaube euch nicht“, entgegnet Josef böse. Ihr seid Spione!“ „Wir sind keine Spione. Wir sind 12 Brüder. Unser jüngster Bruder ist bei unserem Vater Jakob geblieben. Und unser Bruder Josef ist nicht mehr bei uns.“ Doch Josef antwortet: „Ihr seid Spione. Einer von euch ist mein Gefangener. Ihr anderen kehrt zurück zu eurem Vater. Bringt mir euren Bruder Benjamin, dann will ich euch glauben.“ Er füllt ihnen Getreide in die mitgebrachten Säcke. Die Brüder brechen auf. Bei einer Rast öffnen sie einen Sack. Sie erschrecken. Das Geld, mit dem sie gezahlt haben, liegt obenauf.
Zu Hause erzählen sie, was sie erlebt haben. „Der Mann will unseren Bruder Benjamin sehen.“ Jakob aber will Benjamin nicht mit seinen Brüdern reisen lassen. Er ist voller Sorge. Erst nach vielen Tagen ist er einverstanden: „Beladet die Esel und nehmt Geld und Geschenke für diesen Mann mit.“
Zurück in Ägypten lädt Josef die Brüder zu einem Festmahl ein. Sie essen und trinken. Josef trinkt aus seinem silbernen Becher. Er deutet auf Benjamin und fragt: „Ist das euer jüngster Bruder?“ Zu seinen Dienern sagt Josef: „Füllt alle ihre Säcke mit Getreide und legt das Geld wieder hinein. Und in Benjamins Getreidesack legt ihr meinen silbernen Trinkbecher.“ Am frühen Morgen reisen die Brüder ab. Schon bei der ersten Rast werden sie von Josef und seinen Dienern eingeholt. Er beschuldigt sie: „Einer von euch hat meinen silbernen Trinkbecher gestohlen. Bei wem er gefunden wird, der muss mein Diener werden und darf nicht mit euch zurückkehren.“ Alle Säcke werden geöffnet. In jedem Sack liegt das Geld, mit dem sie bezahlt haben. In Benjamins Sack finden sie Josefs silbernen Trinkbecher.
Da fallen die Männer vor Josef auf die Knie und bitten: „Unser Vater Jakob trauert schon seit vielen Jahren um unseren Bruder Josef. Wenn wir nun auch unseren Bruder Benjamin nicht mehr nach Hause bringen, wird er vor Trauer sterben.“

Als die Spannung auf dem Höhepunkt angelangt ist, gibt sich Josef zu erkennen. Er hat sich für die Vergebung entschieden. Josef lädt seinen betagten Vater und alle Verwandten ein, zu ihm nach Ägypten zu ziehen, wo er sie versorgen wird.

Vorherrschende Farbe: grün. Vorherrschende Gefühle: Freunde, Vergebung, Gemeinschaft

aus Episode 7 des Erzähltextes: Da ruft Josef: „Erkennt ihr mich denn nicht? Ich bin doch euer Bruder Josef, den ihr nach Ägypten verkauft habt.“ Seine Brüder können nichts antworten, so erschrocken sind sie. Josef sagt: „Geht nach Hause und sagt unserem Vater: ‚Dein Sohn Josef lebt. Komm nach Ägypten, du, deine Töchter, deine Söhne und deine Enkelkinder. Kommt alle! Ich werde für euch sorgen.‘“
Die Brüder fallen vor Josef auf die Knie: „Vergib uns doch, was wir an dir getan haben. Denn es war böse.“ Josef antwortet: „Habt keine Angst. Denkt doch mal nach: Ihr wolltet mir Böses antun, aber Gott hat Gutes daraus gemacht.“

Es ist ungewöhnlich für biblische Erzählungen, dass im gesamten Erzählkranz kaum vom Göttlichen die Rede ist. Als Handelnder tritt Gott – vordergründig – nicht in Erscheinung. Vielmehr scheint der Gang der Erzählung einzig von den Erwägungen und Entscheidungen der Protagonisten gesteuert zu sein. Doch vom Ende her fällt ein neues Licht auf die scheinbaren Zufälle auf dem gewundenen Weg Josefs. Alles hat nun einen Sinn. Als die Brüder im Namen ihres Vaters Josef um Vergebung bitten, antwortet Josef: „Bin ich denn an Gottes statt?“ Und er fährt mit dem theologischen Spitzensatz fort, der die Geschichte in einen umfassenden Gottesplan einordnet: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen“.

Wäre nicht Josef aus Neid und Missgunst nach Ägypten verkauft worden, wäre niemand da gewesen, der seinen Brüdern, deren Frauen, Kindern und Enkeln in der Hungersnot das Überleben gesichert hätte. Im bösen Handeln der Brüder Josefs ist im Rückblick Gottes Wirken erkennbar.

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