Der Zorn des Propheten – Eine Anklage, Jona in den Mund gelegt, und eine Erkenntnis, die er gewinnt

Michelangelo Buoarroti, der Prophet Jona (ca. 1511), Fresko Sixtinische Kapelle

Michelangelo hat in der Sixtinischen Kapelle dem Propheten Jona einen besonders prominenten Platz gegeben. Er sitzt als einziger Prophet über der Altarwand und versucht, Blickkontakt mit Gott aufzunehmen. Dort ist tatsächlich der Gottvater zu sehen, als er gerade Adam erschafft. Er sich zurückbeugen, um dieses berühmteste aller Fresken der Sixtinischen Kapelle zu sehen. Aber Jona will sich nicht bedanken. Er will sich beschweren. Mit beiden Zeigefingern deutet er auf die böse Stadt, die es nicht mehr geben dürfte. Jona ist zornig, und er klagt Gott an.

Doch er hat etwas Wichtiges nicht verstanden. Das muss er lernen.

Ein pädagogisches Zwiegespräch zwischen Gott und seinem zornigen Propheten, Michelangelos Jona in den Mund gelegt.

Jona: „Gerechter Gott, die 40 Tage sind um! Und was ist geschehen? Nichts. Die Dächer der Häuser Ninives und der Tempel der Stadt glitzern nach wie vor in der Sonne. Kein Blitz, kein Erdbeben, nichts. Wie kann das sein?“

Zunächst erhält er keine Antwort. Doch dann hört er die Stimme, die ihn schon mehrfach gerufen hat: „Jona, ich habe es mir anders überlegt.“

Jona: „Aber Gott, wie kannst du? Brauchst du eine Brille für das Unrecht? Brauchst du ein Hörgerät für das Schreien der Opfer? Wo bleibt die Gerechtigkeit? Das Unrecht kann doch nicht einfach ungeschehen gemacht werden! Wo in aller Welt gibt es einen Richter, der dem Straftäter die Strafe erlässt, nur weil der sagt: ‚Es tut mir leid.'“

Und wieder diese Stimme: „Jona, ich habe Mitleid.“

Jona: „Aber Gott, sie dienen doch noch immer ihren Göttern. Sie glauben doch nicht an dich. Du, dem unser Volk dient, bist doch der einzige Gott. Spielt denn das keine Rolle für dich? Ach, ich wusste es, du bist großmütig und nachsichtig, geduldig und von großer Güte. Ich wollte ja diese Reise nicht antreten. Dann bin ich doch gegangen, aber es war alles umsonst. Ich bin zornig, solange ich lebe.“

Die Stimme: „Jona, ich habe Mitleid mit den vielen Menschen, die nicht einmal wissen, wo rechts und links ist, und mit den Tieren.“

Da muss Jona an seine eigene Geschichte denken. Hat er nicht auch eine zweite Chance bekommen?

War es vielleicht Gottes Plan? Musste er vielleicht hierher reisen, um in einer Art paradoxen Intervention das anzukündigen, was möglichst nicht geschehen sollte? Er hatte nie verstanden, warum Gott noch warten wollte, bevor er straft, wenn doch alles beschlossen war. War das vielleicht der Sinn der 40 Tage?
Und: Kommt es Gott vielleicht gar nicht darauf an, dass die Menschen an ihn glauben? Ist es Gott vielleicht wichtiger, dass sie das Böse lassen und das Gute tun?
Und: Hat Gott die ganze Geschichte etwa nur inszeniert, damit er etwas dazulernt? Sollte er vielleicht zur Einsicht kommen und den Wunsch nach Vergeltung aufgeben?

Er lauscht angestrengt, ob da noch einmal die Stimme zu hören ist. Aber nein, es herrscht Stille. Nachdenklich steht er auf. Der Rizinus, in dessen Schatten er gesessen hat, ist eh verdorrt. Er hat was dazugelernt. Gott ist gütig, er war es mit mir, und nun ist er es auch mit der großen Stadt. Und er denkt darüber nach, ob auch er vielleicht mit den Menschen, die ihm Böses antun, künftig etwas großmütiger sein kann.

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