Nähe und Abstand. Ein distanzsensibler Blick auf die biblische Erzählung von der Segnung der Kinder

Horst Heller (CC BY-SA 4.0)
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Lucas Cranach d. Ä, Die Kindersegnung (ca. 1535)

Über 40 Bilder der Kindersegnung sind in der Werkstatt von Lucas Cranach d. Ä. entstanden. Sie zeigen, wie Frauen ihre Kinder zu Jesus bringen. In vielen Fällen hat der Künstler seinen Gemälden ein Zitat aus dem Markusevangelium (Mk 10,13) als Überschrift hinzugefügt: „Und sie brachten Kindlein zu ihm, dass er sie anrührte.“ Der Segen, so die Botschaft der Bilder, ist nicht körperlos. Und in der Tat: Auf allen Bildern hat der gemalte Jesus Körperkontakt mit den Jüngsten, die zu ihm kommen. Eines hält er im Arm, auf ein anderes legt er seine Hand, hinter ihm hat ein drittes den Arm auf seine Schulter gelegt.

Fast alle Bilder haben eine ähnliche Komposition. Jesus steht in der Mitte, von beiden Seiten drängen Frauen zu ihm, die ihre Kinder auf dem Arm tragen. Die Kleinkinder sind überwiegend im Säuglingsalter. Auf vielen Bildern wird eines von ihnen gestillt, oft sind aber auch Kinder im Schulalter in der Menge zu sehen. Von rechts oben blicken Männer argwöhnisch auf Szene. Es sind die Jünger Jesu, die die Frauen zunächst abgewiesen hatten. Dieser hatte eingegriffen und sie zurechtgewiesen. „Lasst doch die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht daran!“

Es geht um eine sensible Darstellung der Begegnung von Kindern mit dem fremden Erwachsenen Jesus.

Das Stirnrunzeln der Männer drückt aus, wie wenig die Apostel von Jesu Zuwendung zu den Kindern halten. Diese Einwände teile ich nicht. Aber auch ich habe Fragen an die Szene. Ich betrachte die körperliche Zuwendung des Cranach-Jesus zu den Kindern mit den Augen eines für den Schutz der Kinder sensibilisierten Menschen. Zugegebenermaßen ist das eine Sichtweise, die dem Maler und seiner Werkstatt im 16. Jahrhundert noch unbekannt war. Aber mit den Augen von heute betrachtet fällt mir auf, dass viele der Kleinkinder nackt sind. In einer Zeit, in der wir stärker als früher das Schutzbedürfnis von Kindern im Auge haben, achten wir in einer Unterrichtsreihe zur Kindersegnung auf eine angemessene Darstellung von Nähe und Distanz zwischen den Kindern und dem fremden Erwachsenen Jesus. Das gilt für bildliche Darstellungen und für Erzähltexte gleichermaßen.

In diesen Zusammenhang sehe ich die ein oder andere Kinderbibel kritisch, wenn sie ein Mädchen sitzend auf Jesu Schoß zeigen oder wenn Jesus von einem Jungen innig umarmt wird. In einer Zeit, in der offenbar wird, wie sehr das Vertrauen und die Wehrlosigkeit von Kindern missachtet wurde und wird, müssen solche Darstellungen auf den Prüfstand.

Als Menschen, die ein unerschütterliches Vertrauen zeigen können, sind Kinder auch besonders schutzbedürftig

Der Bibeltext (Mk 10,13-16) selbst ist diesbezüglich unverdächtig. Die Evangelien erzählen, dass Eltern (übrigens nicht nur Frauen!) ihre Kinder zu Jesus brachten. Nicht Jesus hatte sie zu sich eingeladen, sondern Familien hatten sich aufgemacht, um ihn zu besuchen. Der Satz „Lasst doch die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht daran! (Mk 10,16)“ macht deutlich, dass die Kinder auf eigenen Wunsch zu ihm kamen. Auch wird deutlich, dass die Eltern anwesend waren und dass Jesus keineswegs mit den Kindern allein war. Hier machen nicht Kinder einen erwachsenen Mann glücklich, sondern sie suchen – mit der Einwilligung der Eltern – die Nähe zu Jesus.

Mit der Segnung der Kinder verbindet Jesus eine Botschaft an die Erwachsenen. Er empfiehlt ihnen, sich am Glauben der Kinder ein Vorbild zu nehmen. In der Tat können Kinder ein unerschütterliches Vertrauen zeigen. Doch gerade deshalb sind sie auch schutzbedürftig.

In der biblischen Geschichte von der Kindersegnung geschieht nichts im Verborgenen.

Die biblische Erzählung ist also nicht das Problem. Es kommt vielmehr auf ihre angemessene religionspädagogische Umsetzung an. Im Religionsunterricht benötigen wir deshalb distanzsensible Erzähltexte und Bilder. Sie betonen, dass die Jünger Jesu dem Wunsch der Familien nach Nähe zunächst ein deutliches „Nein“ entgegenhalten. Doch Jesus überstimmt sie durch sein „Ja“ zu den Kindern und gestattet ihnen näherzukommen. Das tut er nicht ohne sich zu vergewissern, dass sie diese Begegnung auch wünschen und dass es auch ihre Eltern erlauben. Erst dann treten die jungen Besucher zu Jesus und er widmet sich ihnen. Sie dürfen links und rechts von ihm Platz nehmen. Er spricht mit ihnen, seine Segenshandlung verzichtet auf Grenzüberschreitungen. Wie sie genau erfolgte, überlasst der Text der Fantasie der jungen Hörerinnen und Hörer. Die Bilder von Julia Cathrin Simon, die wir zur Visualisierung der Geschichte verwenden, zeigen einem Ort, der von allen Seiten einsehbar ist, auch einige Eltern sind anwesend. Nichts geschieht im Verborgenen.

Die Kinder wussten es als erste. Jesus war in die Stadt gekommen. „Wer ist Jesus? Dürfen wir ihn sehen?“, fragten sie ihre Eltern. „Ja, das dürft ihr“, antworteten diese. „Kommt, wir gehen zusammen.“ Sie wollten seine Geschichten von Gott hören. Auch die Väter wollten dabei sein. Sie brachen auf. Frauen, Männer – und vor allem die Kinder.
Als sie zu Jesus kamen, war er umringt von seinen Freunden. Hatte er keine Zeit für Kinder? Zwei Männer drehten sich um: „Das geht jetzt nicht. Geht wieder nach Hause!“, riefen sie, „ihr könnt ihn nicht sehen. Ihr könnt nicht mit ihm reden.“
Jesus hörte, was seine Freunde sagten. „Was redet ihr da?“, rief er. „Warum sagt ihr „Nein!“ zu den Kindern? Das will ich nicht! Ich sage „Ja!“ Lasst sie zu mir kommen! Kinder gehören zu Gott. Ich will sie segnen.“
Die Kinder drehten sich um und schauten ihre Mütter an. „Dürfen wir?“, fragten sie. „Wollt ihr denn?“, fragten die Mütter. „Ja, bitte!“, riefen die Kinder.
Da erlaubten es die Eltern. Die Kinder setzten sich links und rechts neben Jesus. Er redete mit ihnen. Und dann legte er ihnen die Hände auf den Kopf und segnete sie.
Die Kinder spürten, dass sich das gut anfühlte. Es machte sie ein bisschen glücklich.
(Erzähltext, erarbeitet von Nadine Klimbingat und Horst Heller)

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