Simon, der Fels. Eine Passionserzählung von Versagen und Neubeginn

Horst Heller
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Sie wandern auf der Straße nach Jerusalem. Vor sich sehen sie die Stadt mit seinem Tempel. Drei seiner Gefährten führen einen jungen Esel herbei. Der Meister setzt sich darauf und reitet langsam auf den Weg zum Stadttor. Viele seiner Anhänger begleiten ihn. Von ferne sehen und hören sie schon die Bewohner der Stadt. Sie kommen ihnen entgegen, rufen und winken. Doch Simon ist mit seinen Gedanken in der Vergangenheit. Zusammen mit einigen seiner Freunde ist er dem Meister von dem Tag an gefolgt, als er ihm zum ersten Mal begegnet ist. Sie haben mit ihm gegessen und getrunken, seinen Predigten gelauscht, seine Streitgespräche erlebt, sie haben gesehen, wie er Menschen Kraft gegeben und Kranke geheilt hat. Und nun geht er in diese Stadt – und sie mit ihm. Was erwartet sie da?

Blick auf Jerusalem vom Ostern. Ganz links das (seit Jahrhunderten geschlossene) Goldene Tor. Ob der Meister und seine Gefährten durch dieses Tor den Tempelplatz betraten oder durch den Haupteingang auf der Südseite (siehe die Treppen ganz links), ist ungewiss.

Simon läuft neben dem Esel, auf dem der Meister sitzt. Er achtet darauf, in seiner Nähe zu bleiben. Denn er, Simon, will der sein, auf den er sich verlassen kann. Der Meister nennt ihn Simon Petrus. Seit dem Morgen am See, an dem alles begonnen hat, tut er das.

Der See Genezareth, das „Galiläische Meer“ von Südwesten aus gesehen. Kapernaum war in der Zeit Jesu eine florierende Hafenstadt. Die Fischerboote wurden deshalb nicht „ans Ufer gezogen“, sondern sie lagen im befestigten Hafen.

Damals wohnte Simon am Galiläischen Meer im Norden des Landes. Er arbeitete als Fischer am See, genauso wie sein Vater und sein Bruder. Fischer mussten jeden Tag hart arbeiten, aber sie konnten von ihrer Arbeit leben. An sechs Tagen der Woche liefen er und sein Bruder, lang bevor die Sonne aufging, zum Hafen, bestiegen ihr Boot und fuhren auf den See hinaus. Nicht immer gingen Fische ins Netz, manchmal arbeiteten die Männer die ganze Nacht umsonst. So ist das beim Fischen. Es gibt auch schlechte Tage.

Im Jahr 1986, als der See einen besonders niedrigen Wasserstand hatte, wurde auf dem Boden des Sees ein Fischerboot aus dem 1. Jahrhundert entdeckt. Es konnte gerudert und gesegelt werden und hatte eine Länge von über acht Metern. Es bot fünf oder mehr Personen Platz. Das Fischerhandwerk war folglich ein Broterwerb, von dem ganze Familien lebten. Das Fundstück ist heute in einem Museum unweit der Fundstelle ausgestellt. Im Frankfurter Bibelmuseum findet sich dieser Nachbau.

So war es auch an diesem Morgen. Die Netze waren leer geblieben. Simon und sein Bruder legten müde im Hafen an. Da stand ein fremder Mann. Sie kannten ihn nicht, aber um ihn herum standen Menschen, die ihm zuhörten. Er sprach von Gott – wie ein Gelehrter. Aber er redete anders als die Gelehrten, die sie kannten.

Bis zu diesem Vormittag war das Leben des Simon in den geregelten Bahnen von harter Arbeit, Familie und Stadtleben verlaufen. Nun wurde es in eine neue Umlaufbahn gelenkt. Der Fremde sprach mit ihnen und schickte sie nochmals auf den See hinaus. Sie folgten seinen Worten und legten wieder ab, obwohl das am helllichten Tag überhaupt keinen Sinn ergab. Es war unglaublich, aber sie kehrten mit vollen Netzen zurück. Staunend und fragend standen Simon und sein Bruder vor diesem Mann, neben ihnen ein anderes Brüderpaar, ebenfalls Fischer. Welch einem Menschen waren sie da begegnet?

Er sprach sie alle mit Namen an: „Simon, Andreas, Jakobus, Johannes, bis jetzt wart ihr Fischer. Ab heute sollt ihr mir folgen.“ Und zu Simon sagte er: „Du bist Simon, doch von nun an sollst du Simon Petrus heißen.“ Petrus heißt Fels. „Du wirst der Fels sein. Auf dich will ich bauen.“ Die vier vertäuten ihre Boote, ließen alles zurück und folgten ihm.

Die beiden Brüderpaare „ließen alles zurück.“ Der Beruf des Fischers am See Genezareth war zu dieser Zeit ein Handwerk mit goldenem Boden. Sie hatten also durchaus etwas zurückzulassen. Wer den See verließ und mit Jesus in eine ungesicherte Zukunft ging, musste außerdem mit dem Unverständnis der eigenen Familie rechnen, denn Familien waren eine wirtschaftliche Gemeinschaft, bei der jeder zu harter Arbeit verpflichtet war.

Kidrontal, östlich von Jerusalem. Im Hintergrund die Tempelmauer aus der Zeit Süleymans I., genannt „der Prächtige“

Sie sind nun fast am Stadttor angekommen. Worüber er nachgedacht hat, liegt lange zurück, aber es kommt ihm vor, als sei es gestern gewesen. Der Meister ist in die Menschenmenge eingetaucht, die ihn willkommen heißt. Er wird gefeiert wie ein König. Simon sieht zu ihm hin. Er winkt den Menschen nicht zu. Er wirkt ernst. Sicher hat er auch bemerkt, dass da einige Männer am Straßenrand ihre Köpfe zusammenstecken und grimmig dreinblicken.

Am Abend treffen sie sich zum gemeinsamen Mahl in einem Haus der Stadt. In einem großen Raum hat jemand für sie gedeckt. Der Meister nimmt Platz, Simon setzt sich neben ihn. Andreas, Jakobus, Johannes und die anderen, die ihm folgen, sind bei ihnen. Der Meister spricht ein Gebet, dann bricht er das Brot und teilt es. Sie tauchen es in die Schüsseln und essen Fleisch, Gemüse und Früchte. Dazu trinken sie Wein und Wasser.

Als das Mahl vorüber ist, wird alles abgeräumt. Nur die Karaffen und die Trinkbecher bleiben stehen. Da nimmt der Meister den Weinkelch in die Hand und sagt: „Das war heute unser letztes Abendmahl. Wenn ihr wieder das Brot brecht, wie ich es heute gebrochen habe, und den Wein trinkt, dann denkt an diesen Abend. Denn heute Nacht schon wird mich einer von euch verraten.“

Festmähler in der römischen Antike waren zweigeteilt. Sie bestanden aus einer Sättigungsmahlzeit und einem anschließenden Umtrunk. Der Umtrunk, bei dem Wasser und Wein getrunken wurden, folgte einem festen Ritual, bei dem Trinksprüche und das Gebet eine wichtige Rolle spielten. Die Erinnerung, um die Jesus seine Jünger bei seinem letzten Mahl am Gründonnerstag bittet, bezieht sich nicht auf seinen bevorstehenden Tod. Anders als es die kirchliche Abendmahlsliturgie andeutet, will er nicht, dass die Feiernden bei ihrem Gedächtnismahl an sein Sterben denken. Vielmehr fordert er seine Jünger auf, sich auch ohne ihn zu treffen und dabei dieses Abends zu gedenken. So jedenfalls sind seine Worte zu verstehen, wenn man dem Lukasevangelium folgt.

Zuerst ist es totenstill. Dann rufen alle durcheinander: „Wer ist es, Meister?“ Einige fragen: „Bin ich es?“ Er antwortet: „Es ist einer, der wie ich das Brot in die Schüssel getaucht hat.“ Sie schauen sich an. Alle haben das getan. Da sagt Simon ganz laut: „Meister, du hast mich Petrus genannt. Wenn dich alle verlassen, ich bleibe bei dir, egal was kommt.“

Jesus blickt ihn an: „Simon Petrus, ich sage dir: Bevor morgen die Sonne aufgeht und der Hahn kräht, hast du dreimal gesagt, dass du mich nicht kennst.“ „Niemals“, ruft Simon, „niemals werde ich dich verleugnen!“ Dann ist das Mahl zu Ende. Alle gehen hinaus in die Nacht.

Damaskustor Jerusalem. Durch welches Tor Jesus und seine Jünger die Stadt wieder verließen, wissen wir nicht.

Sie verlassen die Stadt, bevor das Tor geschlossen wird. Der Meister führt sie in einen Garten, in dem alte Olivenbäume stehen. Simon und Andreas, Johannes und Jakobus setzen sich auf den Boden, doch der Meister bleibt stehen. „Ich möchte beten“, sagt er. „Vielleicht will Gott das Böse noch abwenden. Aber nicht wie ich will, sondern wie Gott es will, so soll es geschehen. Bleibt also wach und betet für mich.“ Er entfernt sich einige Schritte und entschwindet in der Dunkelheit. „Heute Nacht muss ich wach bleiben“, denkt Simon.

Garten Gethsemane in Kidrontal vor der Ostmauer Jerusalems.

Als Jesus zurückkommt, ist Simon eingeschlafen und seine Gefährten auch. „Könnt ihr nicht eine Stunde wach bleiben?“, ruft der Meister. „Was schlaft ihr? Öffnet die Augen und betet!“ Simon, der ein Fels sein will, schaut zu Boden. Der Meister hat auch ihn getadelt. Da hören sie Schritte. Es sind die Tempelwachen. Woher wissen sie …?, denkt Simon. Da sieht er es: Einer von ihnen, der gerade noch mit ihnen gegessen und getrunken hat, hat sie hergeführt. Er geht auf den Meister zu und küsst ihn auf die Wange, wie sie das immer tun. Der sieht ihm in die Augen und sagt: „Du verrätst mich mit einem Kuss, Judas?“ Und zu den Wachen sagt er: „Ihr kommt mit Schwertern und Knüppeln. Bin ich denn ein Verbrecher?“ Sie binden ihm die Hände. Er wehrt sich nicht. Der Meister hat gesagt: „Einer von euch wird mich verraten.“ Simon muss jetzt daran denken.

Alle haben sich in die Büsche geschlagen, aber Simon darf den Meister nicht alleine lassen. Auch er hat große Angst, doch er folgt den Wachen heimlich, ohne dass sie ihn sehen. Wo bringen sie ihn hin? Als sie zum Gerichtshaus kommen, wird die Tür von innen geöffnet. Sie führen ihn hinein. Hinter dem Haus wärmt sich eine Gruppe an einer Feuerstelle. Er überlegt. Dann fasst er Mut und stellt sich auch an das Feuer. Er schaut gebannt in die brennende Glut und lauscht.

„Wir haben ihn“, sagt einer der Männer. „Aber was ist mit seinen Leuten?“, fragt ein anderer. „Die sind geflohen, aber wenn wir einen erwischen, dann nehmen wir ihn auch fest.“ Für einen Moment bleibt Simon das Herz stehen. Da zeigt eine Frau auf ihn und ruft: „Du gehörst doch auch zu diesem Gefangenen!“ „Stimmt nicht, ich kenne den Mann gar nicht“, antwortet er. Nach einer kleinen Weile ruft einer der Männer: „Ich glaube doch, du bist auch einer von denen!“ Da leugnet er zum zweiten Mal: „Das stimmt doch nicht, Mensch!“ Zum Glück sprechen sie nun über andere Dinge. Simon traut sich, ein paar Worte zu sagen. Das hätte er besser nicht getan. Denn schon nach wenigen Sätzen fängt einer der Männer wieder an: „Ich bin sicher, du gehörst zu Jesus. Ich habe dich gesehen, als wir ihn gefangen genommen haben! Und an deiner Sprache erkenne ich dich auch.“ Da ruft Simon so laut er kann: „Ich weiß nicht, wovon du redest! Ich kenne diesen Mann gar nicht!

Er hat noch nicht fertig gesprochen, da kräht der Hahn. „Bevor morgen die Sonne aufgeht und der Hahn kräht, hast du dreimal gesagt, dass du mich nicht kennst.“ Es fällt ihm wieder ein, was der Meister ihm gesagt hat. Die Erinnerung an diese Worte trifft ihn wie ein Schlag. So schnell er kann, rennt er davon. Was hat er getan? Der Meister hat ihn Petrus genannt. Er wollte ein Fels sein, aber sein Verhalten war erbärmlich. Er hat ihn verleugnet. Er weint und weint und weint.

Nach dieser Nacht sieht er den Meister nicht mehr. Als er verurteilt wird, ist Simon nicht dabei, als er – schon gezeichnet von den Schlägen der Bewacher – aus der Stadt geführt wird, hält er sich versteckt. Auch als er hingerichtet wird, ist von Simon nichts zu sehen. Er schämt sich. „Ich kenne diesen Menschen gar nicht!“ In der schwersten Stunde seines Lebens hat er den Meister allein gelassen. Und dreimal hat er ihn verleugnet.

Via Dolorosa (schmerzhafter Weg) in der Altstadt von Jerusalem, der den Leidensweg Jesu veranschaulicht. Als Pilgerweg aus der Zeit der Kreuzfahrer orientiert er sich noch nicht an den Erkenntnissen der neuzeitlichen Archäologie.

„Komm, wir tun, was wir früher getan haben“, sagt Simon zu seinem Bruder. So werden sie wieder Fischer, Jakobus und Johannes, Andreas und er. Jetzt stehen sie am Morgen wieder früh auf, fahren mit den Booten auf den See hinaus und werfen die Netze aus.

Bis zu dieser Stelle folgt die Erzählung der Passionsgeschichte des Lukasevangeliums. Sie wechselt nun zu einer österlichen Erzählung des Johannesevangeliums. Dies mag einem theologisch gebildeten Menschen fragwürdig erscheinen, denn Lukas zählt zu den sog. synoptischen Evangelien, Johannes hingegen nicht. Doch diese Entscheidung ist didaktisch begründet und entfernt sich nicht von der Erzählabsicht der synoptischen Evangelien. Denn nicht der scheinbare „Beweis“ eines leeren Grabes beendet Verzweiflung und Traurigkeit, sondern erst die visionäre Begegnung mit dem Auferstandenen.

Und dann geschieht das: Eines Morgens kehren die Männer bei Tagesanbruch von einem nächtlichen Fischzug ans Ufer zurück. Ist es ein guter Fang gewesen? Nein, die Netze sind leer geblieben. Sie sind müde und enttäuscht. Simon blickt zum Ufer. Da steht ein Mann. Er ruft ihm zu: „Hast du nichts gefangen, Simon? Fahr noch einmal auf den See hinaus und wirf die Netze aus!“ Er denkt an jenen Tag, an dem er dem Meister zum ersten Mal begegnet ist. Und wieder erlebt er dieses Wunder. Sie fahren ein zweites Mal hinaus, und augenblicklich ist das Netz voller Fische. Da wissen sie, wer der Mann am Ufer ist. „Es ist der Meister! Er ist nicht tot, er lebt.“ Wie ist das möglich? Sie können es sich nicht erklären. Simon springt aus dem Boot und watet durch das Wasser ans Ufer zu ihm.

Später sitzen sie am Feuer. Sie essen Fisch und Brot und trinken Wasser. Worüber haben sie gesprochen? Simon kann sich später nicht mehr erinnern. Nur das Ende des Gesprächs bleibt ihm bis zu seinem Lebensende unauslöschlich in Erinnerung. Der Meister sieht ihm in die Augen. „Simon“, sagte er zu ihm, „hast du mich lieb?“ Der antwortet ohne Zögern: „Ja, Meister!“ Nach einer Weile fragt er ihn noch einmal: „Simon, hast du mich lieb?“ Er schaut ihn an und sagt: „Ja, Meister, du weißt, dass ich dich liebhabe.“ Bald hört er ein drittes Mal die Stimme des Meisters: „Simon Petrus, hast du mich lieb?“ Da muss er weinen. Dreimal hat er den Meister verleugnet. Dreimal fragt er ihn nun. Unter Tränen gibt er ein drittes Mal die Antwort: „Ja, Meister, du weißt, dass ich dich liebhabe.“ Hat er ihm verziehen?

Im nächsten Moment ist der Platz leer, an dem der Meister eben noch gesessen hat. Wo ist er hergekommen, wohin ist er entschwunden? Egal, Simon und seine Gefährten sind nicht mehr traurig. Der Meister lebt, anders als vorher, aber er lebt. Und er hat ihm, Simon, vergeben. Wieder hat er ihm aufgetragen, ein zweites Mal hinauszufahren. Wieder ist er mit einem Netz voller Fische zurückgekommen. Wie damals, als der Meister zu ihm sagte: „Bis heute wart ihr Fischer. Nun sollt ihr mir folgen.“ Er darf noch einmal beginnen. Er darf wieder Simon Petrus, der Fels sein.

Er steht auf. Welch einem Menschen ist er da begegnet!

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