Wenn Kinder theologische Nachdenkgespräche führen, ist das mehr als ein „Everything goes“

Horst Heller
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Theologische Nachdenkgespräche sind ein elementarer Bestandteil eines zeitgemäßen Religionsunterrichts. Alle dürfen sich beteiligen, niemand wird für abwegige Gedanken getadelt, jede theologische Äußerung der Kinder ist wertvoll. Und doch gilt hier kein Everything goes. Theologisieren ist mehr als über eine Sache „ins Gespräch zu kommen“. Theologisches Nachdenken will Neues entdecken, einen Diskurs anbahnen, religiöse Sprachfähigkeit fördern. Kurz: Wenn wir mit Kindern theologisieren, dass ist das eine Form des Lernens. Deshalb gibt es beim Thoeologisieren einige Regeln zu beachten.

Das folgende Gespräch dieses Blogbeitrags ist konstruiert und hat so nie stattgefunden. Die Namen der Kinder sind erfunden. Und doch ist es inspiriert von vielen unterrichtlichen Nachdenkgesprächen aus der Praxis des Unterrichts in der Grundschule. Die Impulse, die Steuerungen und die Interventionen der Lehrperson werden nach jeder Sequenz begründet.


in einer Unterrichtsreihe zur Entstehung der Welt wurde die Frage erördert, ob die Welt die Schöpfung Gottes sei. Diese Frage ist nun Thema einer Stunde. Nach der Begrüßung schreibt die Lehrperson die Frage an die Tafel: Hat Gott alles geschaffen? Mehrere Finger gehen hoch. Die Lehrperson signalisiert der Klasse, dass das Gespräch im Sitzkreis geführt wird. Dort lässt sie die Frage vorlesen und wartet auf erneute Meldungen.


Luca deutet auf die Tafel: Da steht, dass der Gott alles gemacht hat. Aber das kann nicht stimmen, weil die Menschen auch was machen. Da kann Gott ja nicht alles gemacht haben.
L (schaut auffordernd in die Runde.)
Marius: Ich bin Lucas Meinung.
Lehrperson (wendet sich Marius zu): Vielleicht haben noch nicht alle Kinder verstanden, was du an Lucas Meinung gut findest. Erkläre es uns doch nochmal mit deinen eigenen Worten!
Marius: Wenn der Gott alles gemacht hat, dann hat er ja auch sich selbst gemacht. Das geht aber eigentlich nicht. Der Gott kann ja nicht sich selbst machen.
Luca: Und außerdem …
Lehrperson (unterbricht Luca): Vergiss nicht, was du sagen willst, Luca. Aber wir wollen noch ein paar andere Kinder fragen, was sie darüber denken.


  • Vielredner bremsen, Schüleraktivität anregen, Sprachfähigkeit fördern. Die Lehrperson fordert Marius auf, seine Gedanken in eigene Worte zu fassen und bittet Luca, seinen Beitrag zurückzustellen. Er wird seine Gedanken später äußern können. Jetzt gilt es, das Gespräch für andere SuS zu öffnen.

Elena: Ich finde, der Gott hat alles gemacht.
Einige Kinder nicken.
Lehrperson: Das ist für mich jetzt schwer zu verstehen. Luca sagt, dass der Mensch viel selbst gemacht hat, und Elena sagt, dass Gott alles gemacht hat. Wie passt denn das zusammen?


  • Widersprüche aufzeigen, zum Nachdenken auffordern. Elena und Luca äußern entgegengesetzte Meinungen. Die Lehrperson verzichtet in diesem Fall auf eine eigene Wertung, sondern gibt diesen Widerspruch vielmehr zurück in die Klasse.

Emily: Zum Beispiel die Berge oder die Flüsse, die kann ja kein Mensch machen. Du kannst ja keine hohen Berge bauen, Luca.
Luca: Nein, das nicht, aber … (Er unterbricht sich.)
Lehrperson: Ich könnte mir vorstellen, dass Elena auch recht hat. Was meint ihr?
Finn: Also ich zum Beispiel, ich und meine Schwester, wir sind von meinem Papa und meiner Mama gemacht worden.
Jenni: Meine Mama hat gesagt, dass es schön war, als ich auf die Welt gekommen bin.
Lehrperson: Als ich ein Kind war, hat meine Mama das auch gesagt. Deine Mama hat sich gefreut, als du da warst. Wir freuen uns auch, dass du zu uns gehörst. Wollen wir nochmal nachdenken, was der Mensch machen kann und was der Mensch nicht machen kann?
Marius: Der Mensch kann zum Beispiel Maschinen bauen und Autos und Traktoren und Raketen. Der Mensch kann ganz vieles machen.
Emma: Aber das was die Menschen machen, das ist nicht so gut.
Lehrperson: Kannst du das erklären, Emma?
Emma: Zum Beispiel Autos. Die machen dann einen Unfall und dann kann sogar auch jemand verletzt werden. Einmal habe ich gesehen, wie ein Krankenwagen gekommen ist …
Lehrperson (unterbricht Emma): Da ist vielleicht ein Mensch verletzt worden. Zum Glück kommt der Krankenwagen dann immer ganz schnell. Aber du hast mich auf die Idee für eine Frage gebracht: Wenn der Mensch etwas herstellt, dann kann auch was Schlimmes daraus werden. Aber wie ist das mit den Sachen, die Gott schafft?


  • Assoziative Wortbeiträge wertschätzen, aber zur Fragestellung zurückführen, Konkretisierung einfordern. Durch Jennys und Emmas Äußerungen könnte das Gespräch verflachen. Die Lehrperson greift deshalb ein, nimmt beide Gedanken auf, bittet Emma um ein Beispiel und führt zum Thema zurück. Der gibt auch Luca die Chance, das zu sagen, was er vorhin zurückstellen musste.

Luca: Das wollte ich vorhin schon sagen: Der Mensch hat zum Beispiel nicht die Erde gemacht oder nicht die Berge oder so. Aber der Gott macht so große Sachen und gute Sachen, zum Beispiel den Wald und die Tiere. Und dann haben die Menschen alles schlecht gemacht. Jetzt ist das nicht mehr so gut. Aber mein Papa hat gesagt, jetzt machen wir das wieder besser.
Lehrperson: Luca hat gesagt, dass Gott die großen Sachen macht. Und die Menschen? Machen die die kleinen Dinge?


  • Fokussieren und vertiefen. Lucas Beitrag hat mehrere Aspekte. Sie können nicht gleichzeitig bearbeitet werden. Die Lehrperson wählt deshalb den ersten Teil seiner Ausführungen und gibt eine weiterführende Frage dazu in die Runde.

Finn: Irgendwie kann der Gott ja nicht alles alleine machen. Darum hat er den Menschen gemacht, damit er ihm hilft.
Elena: Hä?
Lehrperson: Was möchtest du Finn fragen, Elena?
Elena: Der soll das nochmal richtig sagen.
Lehrperson: Frage ihn!
Elena schweigt.
Lehrperson: Wer kann Elena helfen?
Niemand meldet sich.
Lehrperson: Finn hat gesagt, dass die Menschen Gott helfen. Was meint ihr dazu?


  • Respektvolle Rede einfordern, Dialog fördern, notfalls selbst zum Gegenstand zurücklenken. Die Lehrperson fordert Elena auf, ihre Frage in angemessenen Worten und direkt an Finn zu richten. Dazu fehlen ihr aber die Worte. Auch andere SuS können nicht helfen, der Faden ist gerissen. Jetzt wiederholt die Lehrperson selbst Finns These und stellt sie zur Diskussion.

Sven: Das ist ein bisschen wie mit den Maschinen: Der Mensch baut sich eine Maschine, zum Beispiel eine große Maschine, die sägt Bäume klein, dann muss er das nicht selbst machen. Die habe ich schon mal gesehen …
Emma wirft ein: Die Bäume können aber doch auch im Wald stehen bleiben. Ich mag die Bäume.
Elena: Und die Vögel wohnen da drin.
Vanessa: Ich mag auch Bäume.
Lehrperson: Ich mag auch Bäume und ich glaube, auch Sven mag die Bäume. Sven, erkläre das mit den Maschinen mal mit einen anderen Beispiel!


  • Nebengleise wieder verlassen. Die Lehrperson korrigiert das schiefe Bild, als sei Sven kein Freund der Bäume und der Natur. Damit beugt sie einer unnötigen Kontroverse vor.

Luca: Die Maschinen nehmen dem Menschen die Arbeit ab. Dann muss er selbst nicht so schwer arbeiten.
Lehrperson: Was meint ihr: Will Gott auch, dass wir ihm helfen, damit er nicht so viel Stress hat?
SuS lachen.
Lehrperson: Was meint ihr?
Emily: Nein.
Lehrperson schaut sie an.
Emily: Nein, der Gott braucht keine Helfer.
Lehrperson: Was sagen die anderen?
Einige SuS nicken. Einige schauen ratlos.
Sven: Der Mensch ist nicht wie eine Maschine. Die geht immer kaputt und funktioniert nicht.
Lehrperson: Aber meistens funktionieren die Maschinen. Und dann machen sie, was sie machen sollen. Zum Beispiel eine Spülmaschine. Aber ich finde den Vergleich mit der Maschine gar nicht so gut. Was meint ihr?


  • Irrwege aufzeigen, selbst dialogoffen Position beziehen. Die Lehrperson möchte, dass sich die SuS vom Bild der Maschine verabschieden. Dazu nutzt sie eine Provokation. Sven distanziert sich nun von seinem letzten Gesprächsbeitrag, aber mit einer fragwürdigen Begründung. Die Lehrperson positioniert sich, indem sie den SuS vorschlägt, ganz auf das Bild der Maschine zu verzichten. Dadurch wird das Gespräch nicht beendet. Die SuS positionieren sich jetzt auch.

Marius: Ja.
Lehrperson: Was meinst du, Marius?
Marius: Der Mensch ist wie ein Mensch.
Lehrperson: Der Mensch ist wie ein Mensch. Das ist ein toller Satz von Marius, finde ich. Wer kann uns sagen, was er bedeutet.
Finn: Dass ich und meine Schwester, … Wir sind Menschen und keine Maschinen.
Einige SuS lachen und ahmen Roboterbewegungen nach.
Lehrperson: Ich glaube, der Satz, den Finn gesagt hat, ist sehr wichtig. Unsere Zeit im Erzählkreis ist schon fast um. Wollen wir mal überlegen, was wir gelernt haben? Dass der Mensch keine Maschine ist, das wussten wir schon vorher.
Einige SuS lachen und machen erneut Roboterbewegungen.
Lehrperson (deutet auf den Tafel): Wir haben mal ein Wort gelernt für die Welt und alles, was Gott gemacht hat. Wer erinnert sich an dieses Wort?
Mehrere Finger gehen hoch.
Davide: Schöpfung.
Lehrperson: Gut, Davide. Magst du einen ganzen Satz daraus machen?
Davide: Die Schöpfung.
Lehrperson: Die Welt ist eine Schöpfung. Luca hat gesagt, dass sie mal sehr gut war. Und ich glaube, er hat gemeint, das war deshalb so, weil Gott der Schöpfer ist.
Luca nickt.
Lehrperson: Und dann haben wir uns gefragt, ob Gott alles geschaffen hat, oder ob der Mensch auch etwas geschaffen hat und etwas schaffen kann. Und ich glaube, auf diese Frage haben wir jetzt eine Antwort gefunden.


  • Abwertende Äußerungen korrigieren, Zeiten einhalten, Ergebnisse bündeln und verbalisieren lassen. Wissen reaktivieren und mit neu Erlerntem in Beziehung setzen. Lacher könnten entmutigen. Deshalb unterstreicht die Lehrperson Finns Satz bewusst. Theologische Gespräche haben einen festen Zeitrahmen. Am Ende wird der Lernfortschritt festgehalten und nach Möglichkeit mit dem Vorwissen der SuS verknüpft. Die Lehrperson lässt SuS das Gelernte selbst zusammenfassen und nimmt dabei im Kauf, dass es unvollkommen formuliert wird.

Finn: Die Menschen können auch was machen. Gutes und Schlechtes.
Lehrperson: Dazu haben Emma und Luca vorhin schon etwas herausgefunden.
Luca (will etwas sagen.)
Lehrperson (wendet sich Luca zu): Lass erst Emma etwas sagen, der liegen die Worte gerade auf der Zunge. Gleich bist du dran.
Emma: Der Mensch tut Bäume umsägen und Bäume anpflanzen.
Lehrperson: Was er macht, ist also manchmal gut und manchmal schlecht für die Schöpfung?
Emma nickt.


  • Stillen Kindern geschützte Räume anbieten, dominante Kinder bremsen und herausfordern. Wenn Luca als erster reden dürfte, würde Emma danach schweigen. Luca bekommt eine anspruchsvollere Frage. In einem zweiten Schritt wird sie auch zum Impuls für die ganze Gruppe.

Lehrperson: Und jetzt du, Luca: Ich habe eine Nachdenkfrage für dich: Wenn Gott der Schöpfer genannt wird, kann man dann sagen, dass die Menschen auch Schöpfer sind?
Luca (überlegt): Ja das ist vielleicht ein bisschen komisch …
Lehrperson (schaut in die Runde): Sind die Menschen auch ein bisschen Schöpfer?
Niemand äußert sich.
Lehrperson: Ich denke an etwas, was du, Finn, vorhin gesagt hast.
Finn: Wegen meiner Schwester, als sie ein Baby war?
Lehrperson nickt.
Finn: Meine Mama und mein Papa haben mich und meine Schwester geschaffen.
Lehrperson schaut in die Runde.


  • Nachdenk-Inseln schaffen, das Gespräch verlangsamen. Theologische Nachdenkgespräche müssen den SuS Zeit zum Überlegen lassen. In diesem Fall möchte die Lehrperson, dass Finns Antwort in den Gedanken der Kinder eine Resonanz erzeugt.

Luca: Gott ist ein großer Schöpfer, der macht ganz große Sachen, und wir sind kleine Schöpfer. Wir machen aber auch ganz viele Sachen.
Lehrperson: Das ist jetzt ein interessanter und wichtiger Satz, finde ich. Wer kann ihn erklären?
Elena: Gott hat die Erde gemacht …
Lehrperson weist mit der Hand auf den Satz an der Tafel.
Elena (korrigiert sich): … geschaffen. Und die Menschen verändern das, was der Gott gemacht hat … geschaffen hat.
Lehrperson (nimmt wahr, dass Luca etwas ergänzen möchte): Möchtest du noch was dazu sagen, Luca?
Luca: Die Menschen machen auch viele Sachen, aber was sie schaffen, ist halt nicht immer so gut.
Lehrperson: Das haben wir schon herausgefunden. Aber einige Kinder haben heute auch Fragen gestellt, die haben wir noch nicht beantwortet. Wer von euch erinnert sich an so eine Frage?
Marius: Es kann trotzdem nicht sein. Wer hat denn zum Beispiel Gott gemacht?
Elena: Und wie sieht Gott eigentlich aus? Ist er durchsichtig?
Lehrperson schreibt sich die beiden Fragen auf.
Emily: Gott ist vielleicht ein großer Kran, der ganz schwere Sachen anheben kann. So groß wie ein Hochhaus oder noch höher.
Lehrperson: Am besten wir heben uns diese beiden Fragen für das nächste Mal auf.


  • Offene Fragen festhalten, das Gespräch beenden. Gedanken, die die SuS ins Gespräch eingebracht haben, die aber noch nicht bearbeitet worden sind, werden gewürdigt und gehen nicht verloren. Die Lehrperson setzt den Schlusspunkt

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