„Die christliche Perspektive anbieten“ oder „Freiraum für Entdeckungen gewähren“? Zwei neue kirchliche Dokumente zum Religionsunterricht in der Grundschule

Horst Heller
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Ein katholisches und ein evangelisches Dokument zum Religionsunterricht in der Grundschule. Wer sie liest, findet Übereinstimmungen. Und doch unterscheiden sich beide Texte fundamental. Angesichts der Herausforderungen, vor denen der konfessionelle Religionsunterricht schon seit einigen Jahren steht, verwundert das.

Vor wenigen Monaten sind zwei kirchliche Verlautbarungen zum Religionsunterricht in der Grundschule erschienen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) veröffentlichte im Februar 2023 einen Orientierungsrahmen unter dem Titel Religiöse Bildung und Evangelischer Religionsunterricht. Wenige Monate vorher, im November 2022, war ein wesentlich kürzerer Text der deutschen katholischen Bischöfe erschienen. Er trägt den Titel Die Perspektive des Glaubens anbieten – Der Religionsunterricht in der Grundschule. Der EKD-Text nennt seine Verfasser: Die Federführung lag beim Comenius-Institut Münster. Der Text der Bischöfe nennt nur die Herausgeber: die Deutsche Bischofskonferenz.

Eines vorweg: Eine umfassende Rezension beider Texte kann dieser Blogbeitrag nicht leisten. Auch für einen differenzierten Vergleich, der beiden Texten gerecht wird, ist hier nicht genug Platz. Zu unterschiedlich sind die Veröffentlichungen: Während die Bischofskonferenz vor allem den konfessionellen Religionsunterricht thematisiert, weitet der evangelische Text den Blick sowohl ins Grundsätzliche als auch ins Konkrete. Dieser Blogbeitrag notiert deshalb Dinge, die mir als einem in der evangelischen Religionspädagogik beheimateten Theologen und Fortbildner beim gründlichen Studium beider Texte aufgefallen sind.

Der evangelische Orientierungsrahmen beginnt beim Kind.

Der evangelische Orientierungsrahmen betrachtet nicht zuerst die verfassungsrechtliche Grundlage des Religionsunterrichts, sondern den umfassenden Bildungswunsch des Kindes. Religiöse Bildung ist für ihn ein Grundrecht. Kinder sind nach christlichem Verständnis bereits vollumfänglich mit der Würde eines Menschen ausgestattet. Das müssen Erwachsene bedenken, wenn sie die Welt der Kinder mitgestalten. Der Orientierungsrahmen nennt vier Kinder-Grundrechte: Wertschätzung, Schutz, Fürsorge und Bildung (S. 14). Die religiöse Bildung der Kinder sei in erster Linie eine Aufgabe des Elternhauses und der Institution Schule. Die innere Begründung des Religionsunterrichts ist somit nicht in der Theologie zu suchen. Das Dokument beschreibt den Religionsunterricht vielmehr als Dienst am Kind, das ein Recht auf umfassende Bildung hat.

Der Orientierungsrahmen führt sodann aus, dass es das Ziel des Religionsunterrichts sei, in „einem geschützten Raum“ (S. 46) eigene Ansichten zum Göttlichen und zu Fragen des Religiösen zu äußern, zu reflektieren, zu diskutieren und womöglich, angeregt durch den Unterricht, zu modifizieren. Impulse dafür gibt die Lehrperson selbst, aber sie finden sich auch in biblischen Texten und andere Geschichten sowie in der Welt anderer Religionen und Kulturen. Ist der Lernprozess dialogisch angelegt, kommen Anregungen für das theologische Nachdenken der Kinder auch aus der Mitte der Lerngruppe selbst. Der alte Satz, dass „der Weg das Ziel“ sei – hier stimmt er wirklich.  

Ein Beispiel aus dem eigenen Unterricht: Wenn Schülerinnen und Schüler am Ende einer Unterrichtsreihe die vier wichtigsten Motive des Erzählkranzes Jakob und Esau benennen sollen, erwartet die Lehrperson nach einer gelungenen Unterrichtsreihe die Begriffe „Brüder, Segen, Betrug und Versöhnung.“ Vielleicht wählen die Schülerinnen und Schüler aber auch ganz andere Worte: „Reisen, Heirat, Wüste, Himmel.“ Eine zeitgemäße Religionsdidaktik lässt diese Zugänge zur Jakob-Geschichte gelten, ja sie begrüßt die Vielfalt der Deutungen der Geschichte und bringt sie miteinander ins Gespräch.

Die Fragen der Kinder bestimmen nicht nur den Weg zum Ziel, sondern auch das Ziel selbst.

Den vier Grundrechten der Kinder fügt die Veröffentlichung (S. 16) ein fünftes Grundrecht hinzu: das Recht des Kindes auf Teilhabe. Für den Religionsunterricht bedeutet das, dass der Fixpunkt für religiöse Bildung nicht die Inhalte der Lehrpläne/ Bildungspläne oder Rahmenpläne, sondern die Fragen der Kinder sind. Der Orientierungsrahmen nennt das Subjektorientierung (S. 45): Die Inhalte des Religionsunterrichts (S. 41) richten sich nach dem Bedarf der Kinder aus. Im besten Fall gehen biblische Geschichten mit ihren Gedanken einen fruchtbaren lebensweltlichen Dialog ein. Dadurch wird religiöse Bildung zu einem komplexen Geschehen, das individuell und ergebnisoffen ist und von den Lernenden mitbestimmt wird.

Das didaktische Dreieck der Religionsdidaktik der Grundschule

Die Aufzählung der Inhalte des Religionsunterrichts im Orientierungsrahmen enthält dennoch keine Überraschungen. Die Inhaltsspalten der Bildungspläne müssen also nicht umgeschrieben werden, vielleicht aber deren einleitenden Sätze. Denn das Dokument betont ein didaktisches Dreieck, das die Inhalte methodisch und unterrichtspraktisch verbindet. Die drei Seiten der Religionsdidaktik und -methodik des Religionsunterrichts sind das theologische Nachdenk-Gespräch, die Narrativität und das Prinzip des dialogischen Lernens.

  • Das theologische Gespräch, oft etwas banalisierend „Theologisieren“ genannt, ist weit mehr als ein „Everything goes“, das (nach dem Motto „Es gibt kein Richtig und kein Falsch!“) alle Äußerungen der Schülerinnen und Schüler unkommentiert stehen lässt. So würde kein Lernprozess initiiert. Es bringt vielmehr theologische Themen ins Gespräch ein und fordert auf, diese aus Kinderperspektive weiterzudenken.
  • Die narrative Didaktik ist ebenfalls weit mehr als das klassische Erzählen biblischer Geschichten („Wir hören eine Geschichte und dann malen wir ein Bild.“). Narrativität versteht den Religionsunterricht als jüngstes Glied einer jahrhundertelangen Erzähltradition und bietet Kindern die Rolle des mitdenkenden Hörers und der nachdenkenden Weitererzählerin an.
  • Die dritte Seite des didaktischen Dreiecks ist das dialogische Lernen. Dazu gehören alle Reflexionsgespräche innerhalb der Lerngruppe, das gemeinsame Suchen und Fragen, das auch die Lehrperson einschließt, sowie das konfessionell-kooperative und interreligiöse Lernen.

Das  Bischofspapier schaut mit den Augen kirchlich Verantwortlicher auf den Religionsunterricht

Die katholische Denkschrift geht in all diesen Fragen weit weniger ins Detail. Auf gut zwanzig Seiten ist dafür auch kein Platz. Und doch wird sichtbar, dass die klassisch-konservative Begründung des Religionsunterrichts nicht der Geschichte angehört. Das Dokument der Bischofskonferenz hat die neuere didaktische Diskussion zur Kenntnis genommen, geht aber einen anderen Weg. Es ist einer traditionelleren Didaktik verpflichtet, die Schülerinnen und Schüler als Subjekte religiösen Lernens zwar ernst nimmt, aber zugleich bestrebt ist, sie mit der „christlichen Perspektive“ bekannt zu machen (S. 5). Es legt Wert auf die lebensweltliche Anbindung aller Inhalte und knüpft an die Korrelationsdidaktik früherer Jahrzehnte an, die Erfahrungen und Glauben in Beziehung zueinander setzte. Es beschreibt den Religionsunterricht als den Ort, der Kindern Zugänge zu den biblischen Überlieferungen eröffnet und mit kirchlichen Ausdrucksformen vertraut machen soll (S. 7). Diese Katechetik ist dem evangelischen Papier fremd. Distanziert sich doch der evangelische Orientierungsrahmen – wie schon die Denkschrift „Identität und Verständigung“ vor fast dreißig Jahren – von jeder Vermittlungsdidaktik, also von einem Verständnis des Religionsunterrichts als Weitergabe eines für die Kinder fremden christlichen Wissens. Antworten auf Fragen, die niemand stellt, waren noch nie für irgendetwas dienlich.

Ohne Steuerung des Lernprozesses durch die Lernenden blieben die Inhalte des Religionsunterrichts fremde Gegenstände

Evangelische wie katholische Kritiker dieser Didaktik mögen vielleicht fragen, ob der Religionsunterricht nicht seinen Markenkern preisgibt, wenn er die Instruktionsdidaktik hinter sich lässt. Auf diese Frage muss jede Lehrperson eine Antwort finden. Die meine ist dreifach und lautet:

  • Wenn der Religionsunterricht die Einsichten der modernen Lernpsychologie ernst nimmt, tut er gut daran, an den Fragen der Kinder anzuknüpfen. Nur so werden vertiefte und nachhaltige Lernprozesse angestoßen.
  • Will der Religionsunterricht in einer säkularen deutschen Gesellschaft ein Angebot für alle sein, wird er sich auch für die Fragen derer öffnen müssen, die am Religionsunterricht teilnehmen wollen, ohne religiös zu sein.
  • Fühlt sich der Religionsunterricht schließlich dem Ziel der Bildungsgerechtigkeit und der Inklusion verpflichtet, dann wird er, so gut es in großen Lerngruppen geht, individuell differenzieren.

Der evangelische Orientierungsrahmen führt Einsichten der jüngeren Zeit zusammen

Das alles hat die evangelischen Religionsdidaktik allerdings schon seit geraumer Zeit verstanden. Der Orientierungsrahmen enthält insofern wenig Neues. Als evangelischer Fortbildner bin ich dennoch froh über dieses Papier. Es führt Einsichten, die in unterschiedlichen Texten bereits notiert waren, zu einem konzeptionellen Ganzen zusammen. Zudem nimmt er die Erfahrungen aus der Praxis des Grundschulunterrichts auf. Die Diskussion einiger Irrwege führt es nicht weiter und biegt nicht erneut in „Sackgassen“ der jüngsten Zeit ab. Digitalität ist eine Realität – auch für den Religionsunterricht in der Grundschule – aber digitale Methoden werden nicht als Allheilmittel gepriesen. Die Lehrperson ist mehr als ein Lernbegleiter, das Unterrichtsgespräch und die Lehrperson behalten einen zentralen Platz.

Das Bischofspapier: Wer auf Innovatives gehofft hatte, wird enttäuscht

Wie die evangelische Veröffentlichung enthält auch das Bischofspapier kaum neue Konzepte. Aber anders als jenem hätte es diesem aus meiner Sicht gut getan. Am Ende ihrer Veröffentlichung beschreiben die Bischöfe zwar knapp die Herausforderungen der Säkularität und der kulturellen Vielfalt in den Schulen, betonen aber, dass angesichts dieses Traditionsabbruchs vorrangig die Lehrpersonen gefordert seien. Eine Weiterentwicklung der Didaktik fordern sie nicht ein. Sie plädieren für eine Verbesserung der Ausbildung und erhoffen sich Fortbildungsangebote, die die Sprach- und Kommunikationskompetenz der Lehrenden fördern. Insgesamt atmet das Dokument den Geist der Kontinuität, angesichts der Krise der Kirche eine verwunderliche Entscheidung.

Die konfessionellen Unterschiede sind größer als gedacht

Ein weiterer Vorschlag lässt den evangelischen Leser ratlos zurück. Die Bischöfe treten für die Streichung von Lehrplaninhalten ein und verlangen eine Reduzierung der Stofffülle, um so die Basiskompetenzen und Inhalte des christlichen Glaubens zu stärken. Was sich wie eine „Besinnung auf das Kerngeschäft“ anfühlt, nennen die Bischöfe eine „Weiterentwicklung der Kompetenzorientierung“ (S. 19). Die konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht wird im Rahmen seiner vielgestaltigen Rahmenbedingungen übrigens auch erwähnt. Dass sie nicht empfohlen, sondern nur als eines unter mehreren Modellen genannt wird, deute ich als Ausdruck des Unwillens, das nötige Neue proaktiv und gemeinsam herbeizuführen.

Schließlich fehlt im Titel des Bischofspapiers das Wort „katholisch“. Für den Religionsunterricht haben die Bischöfe jedenfalls nicht gesprochen.

Evangelische Kirche in Deutschland, Religiöse Bildung und Evangelischer Religionsunterricht in der Grundschule, EKD-Text 142, 2023
Die deutschen Bischöfe, Die Perspektive des Glaubens anbieten – Der Religionsunterricht in der Grundschule, Text 111 der Deutschen Bischofskonferenz, 2022

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