Gliederschmerzen und ein Abschiedsgruß. Als Lucio Dalla ein Konzert (vielleicht) mit einem Friedensappell beendete

Lucio Dalla – Von Lucarelli – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5449314

Es war an einem 10. August, als ich das einzige Mal in meinem Leben ein Konzert von Lucio Dalla besuchte. Von dem vielseitigen Songwriter, Sänger, Bandleader und Komponist, der sich in ganz unterschiedlichen Genres wohlfühlte, war mir vor allem sein berühmtester Song bekannt. In „Ti voglio bene assai“ besingt er das Drama der letzten Lebenswochen des schwerkranken Startenors Enrico Caruso und imitiert dabei sowohl seine Stimme als auch seinen neapolitanischen Dialekt.

Auch dieses Lied hörte ich an diesem warmen Sommerabend – vielleicht war es im Jahr 2007 – auf einem großen Parkplatz nahe der Stadt Lamezia in Kalabrien. An dessen Ende war eine Bühne aufgebaut, vor der weit über tausend Besucher einen Abend lang standen und seine Lieder mitsangen. Neben dem Musikgenuss sind mir zwei Dinge in Erinnerung geblieben: Die Gliederschmerzen am nächsten Morgen und der Abschiedsgruß des Künstlers. Durch das lange Stehen verursacht, taten mir am nächsten Tag alle Knochen weh. Zudem hatte ich den ganzen Abend lang versucht, möglichst wenigen den Blick auf die große Leinwand zu verstellen. Ich fühlte mich nicht wohl, denn ich wusste, dass der Platz hinter mir für Menschen mit durchschnittlicher Körpergröße wenig vergnüglich war. Ich krümmte mich und versuchte, mich so kleiner zu machen, als ich bin.

Am Ende des Konzertes verabschiedete sich der Cantautore mit den Worten: „La Notte di San Lorenzo!“ Ich hielt das für eine Erinnerung an das Datum dieses Konzertabends. In Italien gibt es den Glauben, dass Wünsche in Erfüllung gehen, die am Abend des 10. August ausgesprochen werden, während eine Sternschnuppe am Himmel erscheint. Während des Konzertes war der Nachthimmel durch die Scheinwerfer der Bühne kaum zu sehen, und so schnell fiel mir auch kein Wunsch ein.

Vielleicht aber hatte Lucio Dalla mit diesem Ausruf auch den Titel eines Films von Paolo und Vittorio Taviani zitiert. Der Klassiker aus dem Jahr 1982 erzählt eine Geschichte vom Laurentiustag des Jahres 1944. Einige der Bewohner des Dorfes San Miniato in der Toskana widersetzten sich der Anweisung, den Ort nicht zu verlassen. Sie eilten den amerikanischen Truppen entgegen. Andere blieben zurück und versammelten sich in der Kirche. Dort wurden sie Opfer eines niederträchtigen Vergeltungsschlags der Deutschen. Das historische Drama, ein eindrucksvoller Antikriegsfilm, zog bei seiner Premiere auf der Piazza Grande in Locarno 8.000 Zuschauer an. Dort allerdings durfte man sitzen.

Heute frage ich mich: Was hatte Musiker mit seinem Abschiedsgruß gemeint? Wollte er anregen, die Nacht der Sternschnuppen zu nutzen? Oder ging es ihm um eine Mahnung, den Frieden zu schätzen und zu bewahren? Beides hätte zu ihm gepasst.

Vielleicht ist es auch gar kein Unterschied. Der Februar und der März dieses Jahres haben gezeigt, dass sich nicht alle Machthaber Europas dem Frieden und dem internationalen Recht verpflichtet wissen. Wäre heute eine „Notte di San Lorenzo“, würde ich mir ein Ende jener kurzsichtigen Politik wünschen, die in einer gewaltsamen Ausdehnung der Einflusszonen einen Vorteil zu erkennen meint.

So gesehen sind die beiden möglichen Auslegungen seines Grußes vielleicht deckungsgleich. Wir können Lucio Dalla leider auch nicht mehr fragen. Er starb vor 10 Jahren, am 1. März 2012, an einem Herzinfarkt. Mit ihm ging ein großer Künstler.

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