„Rühre mich nicht an!“ Maria Magdalena und ihr Ostererlebnis, das sie nicht anfassen, sondern nur nacherzählen kann

Horst Heller
Dieser Blogbeitrag als PDF

Ostern macht es uns nicht leicht, denn es erzählt von einem Wunder, das wir selbst nicht erlebt haben und auch nicht erleben werden. Damit hält das wichtigste christliche Fest einige Fragezeichen bereit. Mit Fragezeichen beginnt auch der erste Ostertag. Als Maria Magdalena den Auferstandenen sieht, erkennt sie ihn nicht. Ist es der Gärtner? Dann aber hört sie ihren Namen: „Maria!“ In diesem Moment weiß sie. Er ist es! „Rabbuni! – Mein Lehrer!“, antwortet sie, ohne zu verstehen, wie das möglich ist. Dann hört sie diesen Satz: „Rühre mich nicht an!“ So erzählt es das Johannesevangelium.

Dieser Blogbeitrag macht den Versuch, das Ostergeschehen nach der Art des Johannes zu deuten. Er erzählt und interpretiert die Ostergeschichte der Maria Magdalena, so wie sie Johannes erzählt.

Maria. Wir kennen diesen Namen. Viele Frauen heißen so. Eine von ihnen, die Mutter Jesu aus Nazareth, meinen wir zu kennen. Der Heimatort dieser Maria aber ist Magdala am großen See Genezareth. Sie wird deshalb Maria Magdalena genannt. In ihrer Synagoge hat sie ihn zum ersten Mal gesehen. Es folgten eine unvergessliche Zeit in seiner Nachfolge. Wie wertvoll war doch die Zeit, die sie in seiner Nähe verbrachte! Doch heute muss sie weinen. Jesus lebt nicht mehr.
Sie denkt an Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes. Fischer waren sie gewesen und seine Jünger waren sie geworden. Ihre Schiffe hatten sie im Hafen von Kapernaum festgemacht und alles zurückgelassen. Sie waren mit Jesus gewandert, immer in der Nähe des großen Sees. Auch Maria war zusammen mit anderen Frauen auf seinen Wanderungen dabei. Manchmal hatten sie für Jesus und seine Jünger eingekauft und gekocht. Wenn er von Gott erzählte, durften sie zuhören und Fragen stellen, genauso wie die Männer. Doch was war in den letzten Tagen geschehen? Nichts war mehr wie zuvor.

Jesus duldete Frauen in seiner Nähe und behandelte sie mit Wertschätzung. Maria Magdalena war eine von ihnen. Sie genoss in der Alten Kirche allerhöchstes Ansehen. Erst im Laufe des Mittelalters wurde ihr Ruf systematisch und absichtsvoll ruiniert. Das habe ich in einem anderen Blogbeitrag ausführlich erzählt: Maria Magdalena. Ihre Rehabilitierung ist überfällig.
An dieser Stelle folgen wir weiter dem Evangelisten Johannes:

Maria Magdalena muss weinen. Jesus war nicht mehr da. Aber wo war eigentlich Simon Petrus? Wo war sein Bruder Andreas, wo waren Jakobus und Johannes? Sie waren allesamt geflohen. Das heißt, Simon Petrus war nicht geflohen, er war der Tempelwache, die Jesus abgeführt hatte, heimlich gefolgt. Aber im Hof des Gerichtshauses hatte ihn der Mut verlassen. Maria hat von der Sache mit den Hahnenschrei gehört. Kein Wunder, denkt sie, er war ja allein. Aber auch Jesus war allein gewesen, als er verhört wurde.
Maria hat auch Angst, aber zum Glück sind Salome und die andere Maria – ja, auch sie heißt Maria! – bei ihr. Von weitem betrachten sie das Felsengrab. Es ist noch leer. Es gehört einem Mann, der nicht in Jerusalem wohnt. Er und seine Familie wollen einmal in diesem Grab bestattet werden. Nun hat er erlaubt, dass Jesus hier bestattet wird. Die drei Frauen sehen, wie er zusammen mit einem anderen Mann den toten Jesus in das Felsengrab legt. Dann rollen sie zu zweit den großen Stein vor die Grabkammer und gehen, wahrscheinlich nach Hause. Denn es wird schon Abend.
„Die Sonne geht gleich unter“, sagt Maria Magdalena zu ihren Begleiterinnen. „Es ist Zeit, dass auch wir nach Hause gehen. Morgen ist der Sabbat, der Ruhetag. Aber danach wollen wir wieder herkommen.“ Sie schauen noch einmal zu dem schweren Stein. Es ist schon fast dunkel. Sie wenden sie sich um und gehen auch nach Hause.

In allen Evangelien endet die Passionsgeschichte Jesu mit der Grablegung am Karfreitagabend. Dann haben die „Berichterstatter“ „Sendepause“. Erst am frühen Ostersonntag wird die Erzählung fortgesetzt. Auch dieser Beitrag füllt diese Lücke nicht. Er folgt weiter dem Evangelisten Johannes:

Es ist ganz früh am übernächsten Morgen. Der Sabbat, der Ruhetag, ist vorbei. Maria Magdalena hat nun gut riechendes Salböl gekauft, um den Körper des Toten einzureiben. Sie läuft zum Grab. Noch ist es dunkel. Da denkt sie an den tonnenschweren Stein vor dem Eingang des Felsengrabs. Es muss ihn jemand beiseite rollen.
Während sie noch grübelt, geht die Sonne geht auf. Sie erreicht die Grabstätte. Da sieht sie: Der Eingang des Felsengrabes ist nicht mehr verschlossen. Sie kann hineinsehen. Das Grab ist leer! Maria Magdalena erschrickt. Sie haben meinen Herrn weggenommen, denkt sie. Und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben!

In einem stimmen alle vier Ostererzählungen des Neuen Testaments überein: Das Grab, in das der Leichnam des Gekreuzigten gelegt worden war, ist nun leer. Dieser Anblick bewirkt aber keinen Glauben, sondern nur Erschrecken, ja sogar Angst.

Maria Magdalena ist ratlos. Da dreht sie sich um und sieht einen Mann vor dem Felsengrab stehen. Ist es der Gärtner? „Lieber Gärtner, wenn du ihn weggebracht hast, dann sage mir, wo du ihn hingelegt hast. Ich will ihn herholen lassen.“ „Maria!“, sagt der Mann zu ihr. Da sieht sie ihn an. Er ist es! Er ist es!! Wie ist das möglich? Da hört sie ihn sagen: „Rühre mich nicht an!“

Dieser Satz der Erzählung des Johannesevangeliums, davon bin ich überzeugt, ist nicht nur zu Maria Magdalena gesprochen. Johannes will, dass seine Leserinnen und Leser über ihn nachdenken. Das, was Maria hier erlebt, kann nicht „angefasst“ nicht „verstanden“, nicht „be-griffen“ werden. Es ist ein wundersames inneres Geschehen, das Maria allerdings nicht für sich behalten soll:

Maria Magdalena hört noch etwas: „Gehe zu Simon Petrus und den anderen und sage ihnen, was du gesehen und gehört hast.“
Dann ist sie wieder allein. Sie geht zu Petrus und den anderen: „Ich habe den Herrn gesehen!“ Und sie erzählt, was er zu ihr gesagt hat.

Das ist für mich der schönste Teil dieser Geschichte. Die Apostel haben sich eingeschlossen. Da kommt Maria Magdalena und alles was sie tut: Sie erzählt, was sie erlebt hat.

Die Ereignisse des Ostertags haben also einen Rahmen, den wir beschreiben können. Jesus wird am Freitag von dem Pessachfest gekreuzigt und bestattet, aber schon am übernächsten Tag sehen Maria Magdalena, Simon Petrus, die anderen Jünger und viele andere, dass der Leichnam nicht mehr in dem Grab liegt, in dem er bestattet wurde. „Kommt und seht! Hier ist die Stätte, wo er gelegen hat“, fordert der Evangelist Matthäus (Mt 28,6) seine Gemeinde zu einer Wallfahrt zum leeren Grab auf. Doch diese Entdeckung gehört zum Rahmen der Ostergeschichte und ist nicht ihr Kern.

Die christliche Dogmatik hat das Wortpaar „Kreuz und Auferstehung“ gebildet und damit zwei Dinge verbunden, die sich sehr unterscheiden. Das Kreuz ist ein geschichtliches Faktum, das Osterereignis ist ein inneres Erleben. Weil Maria Magdalena nicht als einzige eine solche visionäre Begegnung mit dem auferstandenen Christus hat, lässt es eine Gemeinschaft entstehen. Die christliche Gemeinde ist geboren.

Als Johannes seine Geschichte aufschreibt, liegen die Visionen, die Maria Magdalena und andere hatten, viele Jahre zurück. Er selbst hat den Auferstandenen nicht gesehen. Um sich dem Ostergeschehen zu nähern, wählt er den Weg, den auch die anderen Evangelien einschlagen: Er erzählt, wie Maria Magdalena erzählt hat. Als sie Petrus schildert, was sie gesehen und gehört hat, erklärt sie das Wunder nicht. „Rühre mich nicht an“, hat der Auferstandene gesagt. Anfassen, Festhalten und Nachprüfen geht nicht. Auch der Evangelist kann und will das Osterwunder nicht entschlüsseln. Ebenso wenig wird es uns nicht gelingen, ihm auf die Spur zu kommen. Deshalb hat dieser Blogbeitrag „nur“ die Erzählung des Johannes kommentiert weitererzählt.

Weitererzählen, was wir gelesen und gehört haben, das ist vielleicht die einzig angemessene Weise, mit dem österlichen Wunder umzugehen. Jedenfalls passt das zum Osterfest nach Art der Maria Magdalena und des Johannes: „Rühre mich nicht an! – Aber erzähle, was dir erzählt wurde!“

27.10.2019: Ecclesia semper reformanda: Eine überraschende Entdeckung – und warum mir dieses Motto dennoch gefällt
16.03.2020: „Für mich hätte er nicht sterben müssen“. Gedanken zur Passion Jesu aus religionspädagogischer Sicht
06.02.2021: Petrus, der Fels. Ein Passionsgeschichte von Versagen und Vergebung
22.08.2021: Rut und Noomi: 2 Frauen, 5 Episoden, 8 Einsichten. Eine biblische Geschichte von Leid, Klugheit und Solidarität
16.01.2022: „„Du sollst nicht töten!“ Die Geschichte zweier mutiger Hebammen, die das taten, als noch ein anderes Gesetz galt. Gedanken zur biblischen Geschichte von Mose (2)
19.06.2022: „Wenn ich von Theologie auch nur das Geringste verstehe…“ Ein neunzig Jahre alter Brief von Karl Barth zur Rolle der Frau in der Kirche gibt noch heute zu denken.
31.03.2024: War das Grab Jesu am Ostermorgen leer? Und ist das überhaupt wichtig?


Hinterlasse einen Kommentar