Horst Heller
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Selbst in Musikerkreisen ist sie kaum bekannt: Emilie Mayer, eine der wichtigsten europäischen Komponistinnen des 19. Jahrhunderts, in Deutschland sicher die größte, galt zu ihrer Zeit als der weibliche Beethoven. In den 71 Jahren ihres Lebens schuf sie acht Sinfonien, fünfzehn Konzertouvertüren sowie Kammer- und Chormusik. 1883, im Jahr ihres Todes war sie weit über die Grenzen Deutschlands bekannt und geachtet. Und doch ist ihre Kuns heute fast vergessen. Dieser Blogbeitrag möchte einen Beitrag dazu leisten, dass sich das ändert.
Emilie Mayer wird am 14. Mai 1812 im mecklenburgischen Städtchen Friedland geboren. Emilie ist das dritte von fünf Kindern ihres früh verwitweten Vaters. Sie zeigt schon als Kind Interesse am und Talent für das Klavier und für den Gesang. Ihr Vater, ein angesehener Apotheker, engagiert einen Musiklehrer, der sie in Klavier und Komposition unterrichtet. Das ist ihr erstes Glück, denn ihr früher Förderer, der städtische Organist und Lehrer Carl Driver glaubt an sie. Das zweite Glück ist ihr Vater selbst. Seine Söhne ergreifen als Ärzte und Apotheker angesehene Berufe, für die Töchter jedoch gilt eine standesgemäße Heirat als das einzige Lebensziel. Doch Johann August Friedrich Mayer, von Emilies Musiklehrer ermutigt, kann die Regeln seiner Zeit zwar nicht außer Kraft setzen, er macht für seine begabte und zielstrebige Tochter aber eine Ausnahme. Er gestattet ihr, ledig zu bleiben und fördert sie nach Kräften. Als er sich 1840 das Leben nimmt, hinterlässt er jedem seiner Kinder ein ansehnliches Erbe, das es auch Emilie erlaubt, ein selbstbestimmtes Leben ohne männliche Protektion zu führen. Emilie heiratet nie. Ob es sie geschmerzt hat, dass sie nur als Komponistin leben konnte, weil sie auf Ehe und eigene Kinder verzichtete, wissen wir nicht.
Sie zieht mehrfach um, um ihre Ausbildung voranzubringen und ihre Musik zur Aufführung bringen zu lassen. Sie wird Schülerin von Carl Löwe in Stettin und Adolph Marx in Berlin, die die junge Komponistin ausbilden und wertschätzend begleiten.
Schon bald ist sie im Musikleben keine Unbekannte mehr. Es entstehen unter anderem zwei Sinfonien in c-Moll und e-Moll, mit denen sie unterstreicht, dass sie sich nicht auf Klaviermusik und Liedkompositionen beschränken will, die in dieser Zeit auch Frauen als „Spielwiese“ zugestanden wurden. Sie wagt sich selbstverständlich auch an Streichquartette, Genres, in denen Frauen – so die verbreitete Meinung – nur dilettieren konnten.
Am 21. April 1850 veranstaltet Emilie ihr erstes eigenes Konzert in Berlin. Neben zwei Liedern und einem Streichquartett erklingen an diesem Abend eine Konzertouvertüre und ihre neue dritte Sinfonie in C-Dur. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. und seine Gattin, Königin Elisabeth, hatten ihr dafür das Berliner Schauspielhaus unentgeltlich überlassen. Eintritt darf sie deshalb nicht erheben. Emilie bezahlt also die Musiker aus eigener Tasche und lässt die Noten auf eigene Kosten kopieren und drucken. Sie ist Komponistin, Managerin und Konzertveranstalterin in einer Person.
Als der Schlussakkord verklungen ist, haben die anwesenden Kritiker ein Problem. Die aufgeführten Werke überzeugen Publikum und Fachwelt, obwohl sie von einer Frau komponiert sind. Flodoard Geyer, einer der Rezensenten, lobt deshalb den gesamten Konzertabend, schränkt aber ein: „Was weibliche Kräfte, Kräfte zweiter Ordnung, vermögen, das hat Emilie Mayer errungen und wiedergegeben. (zitiert nach Beuys, S 107)“. Ein Lob, dass die Komponistin geschmerzt haben muss. Ludwig Rellstab, ein anderer Kritiker, traut sich hingegen, der Musikwelt anzuempfehlen, die Kategorisierung in weibliche und männliche Kunst aufzugeben: „Wir dürfen ihre Arbeiten dem Meisten, was die junge Welt der Tonkünstler heute zu Tage gefördert hat, gleichberechtigt an die Seite stellen. (Beuys, S. 107)“.
Ein Jahr später – Emilie hat ein weiteres Konzert in Berlin veranstaltet – hat auch Geyer das Lager gewechselt. Zwar kann er die Unterscheidung in männliche und weibliche Kunst noch nicht aufgeben, aber er erteilt in der Musikzeitschrift Echo ihrer neuen Sinfonie in h-Moll „das beste Lob“ und erwähnt den „männlich kräftigen Charakter“.
Die Unterscheidung in weibliche und männliche Kunst ist zu dieser Zeit mehr als ein Klischee, sondern eine in der Kultur der Zeit tief verankerte Überzeugung. Sie unterstellte, dass Frauen zwar handwerklich gute kompositorische Arbeit abliefern konnten, sich dazu aber an männliche Vorbilder anlehnen mussten. Kunst nach Art der Frauen sei immer Nachahmung, dem Mann allein sei es vorbehalten, Geniales zu erschaffen. Wenn Emilies Konzerte also gefielen, blieb immer noch dieses diskriminierende „Argument“, ihre Musik sei den großen Originalen nur nachempfunden. Selbstredend blieben es die Kritiker schuldig, an konkreten Passagen ihrer Werke den Nachweis dafür zu erbringen.
Dass „weibliche Musik“ der männlichen nicht gleichwertig sein könne, beruht übrigens auf einem doppelten Fehlurteil. Zum einen unterschätzte es – wie beschrieben – die Leistungsfähigkeit der Künstlerinnen, zum anderen aber übersah es, dass Kreatives nicht aus dem Himmel der Kunst auf das Papier des Komponisten fällt. Damit ein Werk gelingt, bedarf es einer gründlichen Ausbildung und handwerklichen Könnens. Auch eine Sinfonie Beethovens war nicht vom Himmel gefallen. Ein Künstler wurde und wird ebenso wie eine Künstlerin durch die Förderung erfahrener Künstler, durch deren Rückmeldung und durch Kritik der Fachwelt inspiriert.
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ein Ereignis 17 Jahre später. Emilie war da bereits über Deutschland hinaus bekannt. Im Mai 1867 erschienen mehrere ihre Kompositionen Mayer im Druck, unter anderem ihre vierte Sinfonie in h-moll aus dem Jahr 1851. Ein Orchesterwerk in dieser Tonart galt zu dieser Zeit als etwas Neuartiges, denn Schuberts h-Moll-Sinfonie war noch nicht wiederentdeckt worden. Leider ist Emilies Komposition nur als Klaviertranskription erhalten, die Orchesterfassung ist verschollen. Der Rekonstruktion für Orchester hört man eine neue Reife der 38-jährigen Komponistin an. Sie erinnert nur nicht mehr an Sinfonien Mozarts, Emilie hat eine eigene Tonsprache gefunden. Damit war dem Vorurteil, Frauen könnten bestenfalls die Kunst anderer geschickt imitieren, eigentlich der Boden entzogen. Hermann Zopff, ein Musikschriftsteller, der in der Berliner Neuen Zeitung für Musik veröffentlichte, erkannte an: Emilie war ein großer Wurf gelungen. Er erwähnte, dass andere Kompositionen von Frauen oft von „Unkorrektheiten“ gekennzeichnet seien, die „dem Auge und oft auch dem Ohre wehe tun. … Umso mehr verdienen Werke von weiblicher Hand hervorgehoben zu werden, in welchen die erwähnten Mängel einmal ausnahmsweise nicht zu treffen sind. (Beuys, S. 169)“. Das Wort „ausnahmsweise“ zeigt: Das Vorurteil wankte, aber es fiel nicht.
Doch ein Anfang war gemacht. Elf Jahre später findet sich eine ähnliche Einschätzung in der neuen Berliner Musikzeitung. Wieder ist Emilie Mayers h-Moll Sinfonie der Anlass. Sie war in Halle mit großem Erfolg aufgeführt worden. Der Kritiker schrieb: „Wir müssen den Hut ziehen vor dem musikalischen Talent der Komponistin, welchem nach Aufführung ihres Werkes wohlverdiente Ovationen dargebracht wurden.“ Das Wort „Talent“ deutet noch auf die bekannten Vorbehalte. Und auch dieser Rezensent war der Meinung, dass Emilie die Ausnahme von der Regel sei: „Mag das weibliche Geschlecht in der musikalischen Reproduktion“ – Hier mag der Autor an Clara Schumann gedacht haben, die als Pianistin verehrt wurde – „zahlreiche große Leistung aufzuweisen haben, … die Produktion ist Domaine des männlichen Schöpfergeistes. Und nur selten zeigt eine weibliche Persönlichkeit, dass auch diese Regel nicht ohne Ausnahme ist. Hier ist eine solche Ausnahme. Hier zeigt (sich) ein weiblicher Komponist, der nicht bloß für das Pianoforte schreibt, sondern auch die schwierige, von tausend Geheimnissen wimmelnde Aufgabe der Orchesterkomposition löst Und wie löst! (zitiert nach Beuys198 f.)“
Als Emilie Mayer 1883 hoch angesehen stirbt, verstummt auch ihre Musik. Hundert Jahre lang schlafen die Werke des weiblichen Beethoven – anders als die des männlichen – einen bedauerlichen Dornröschenschlaf. Dieses Etikett, das zu ihrer Zeit sicher ehrenvoll gemeint war, war plötzlich nicht mehr gültig. Ein Netzwerk aus Schülerinnen, Schülern und Wegbegleitern, die ihre Kompositionen nach ihrem Tod aufführten, hatte sie nicht. Erst im 21. Jahrhundert wird ihre Musik wieder entdeckt. Doch in den Konzertsälen ist sie noch immer selten zu hören. Dieser Blog möchte einen kleinen Beitrag leisten, dass das anders wird. Emilie Mayer ist nämlich mehr als ein weiblicher Beethoven, Emilie Mayer ist Emilie Mayer, eine Komponistin des 19. Jahrhunderts, deren Musik heute vielleicht weltbekannt wäre, wäre sie ein Mann gewesen.
Literatur und Links
Barbara Beuys, Emilie Mayer, Europas größte Komponistin. Eine Spurensuche, Weilerswist-Metternich, 2021
Emilie Mayer, Faust-Ouvertüre – https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/meisterstuecke/audio-emilie-mayer-faust-ouverture–100.html (WDR3 Meisterstücke)
Emilie Mayer, der „weibliche Beethoven“ – https://www.srf.ch/kultur/musik/vergessene-komponistin-emilie-mayer-der-weibliche-beethoven. (SRF-Kontext)
Women in Music: Emilie Mayer – https://www.ndr.de/kultur/musik/klassik/Emilie-Mayer-ein-Leben-fuer-Komponieren,emiliemayer112.html (NDR-Kultur)
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