Maria Magdalena: Ihre Rehabilitierung ist überfällig.

Horst Heller (CC BY-SA 4.0)
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Donato di Niccolo di Betto Bardi, genannt Donatello: Die büßende Magdalena

Die Statue aus Holz ist etwas größer als der Betrachter. Sie ist vom italienischen Bildhauer Donato di Niccolo di Betto Bardi, genannt Donatello, in der Mitte des 15. Jahrhunderts geschaffen worden und findet sich heute im Museum dell’Opera del Duomo, gleich neben dem weltbekannten Dom in Florenz. Eine magere Frau mit hohlen Wangen und schlechten Zähnen sieht den Betrachter an, nein, eigentlich geht ihr Blick an ihm vorbei, schräg nach unten ins Leere. Der ausgemergelte Körper ist von Entbehrungen gezeichnet, offenbar hat die Frau streng gefastet. Sie trägt ein zerschlissenes Gewand und steht barfüßig auf spindeldürren Beinen. Aus ihren Augen spricht der Tod.

Diese „lebende Mumie“ ist niemand anderes als Maria Magdalena. In der Kunst wird sie sonst als junge und begehrenswerte Frau dargestellt, die ihr Haar nicht unter einem Kopftuch verbirgt. Die Vorstellung, dass der Erlöser von einer attraktiven Frau umgeben gewesen sein könnte, die ihr Haar offen trug, und deren sexuelle Ausstrahlung bis an die Grenzen des Schicklichen ging, hat Künstler zu allen Zeiten fasziniert.

Ganz anders Donatellos Meisterwerk: Seine Magdalena ist gealtert, ihr Haar ist verfilzt. Sie ist zur Einsiedlerin geworden, die für die Sünden ihres Lebens Buße tut. Welche Sünde? Wofür Buße? In der Bibel findet sich keine Antwort auf diese Frage.

Ausgrabungen in Magdala (2019)

Welche Sünde? Wofür Buße?
Magdala war in der Zeit Jesu eine Ortschaft am Ufer des Sees Genezareth in Galiläa. Im Jahr 2006 wurden dort bei Ausgrabungen Reste einer Synagoge entdeckt, in der Jesus selbst die Tora ausgelegt haben könnte. Sie stammt jedenfalls aus biblischen Zeiten und liegt in der Region, die er regelmäßig zu Fuß reisend durchquerte. Maria schloss sich dem Rabbi an und gehörte zusammen mit anderen Frauen zu seiner Jüngerschaft, die keinesfalls nur aus Männern bestand.

Als ihr Meister gefangengenommen und gekreuzigt wurde, blieb sie in seiner Nähe, während von den männlichen Jüngern und späteren Aposteln zu diesem Zeitpunkt nichts zu sehen war. Sie war eine der Frauen, die sich am frühen Sonntagmorgen nach dem Karfreitag aufmachten, die vorgeschriebene Salbung des Leichnams vorzunehmen, die am Abend vor dem Sabbat nicht mehr möglich gewesen war. Das Johannesevangelium erzählt, dass sie die erste visionäre Begegnung mit dem Auferstandenen hatte, noch bevor er einem der Apostel erschien. Unter den Frauen, die Jesus folgten, wird Maria immer an erster Stelle genannt. Als die Bücher der Bibel geschrieben wurden, genoss sie noch höchste Verehrung.

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Im 6. Jahrhundert beginnt die Herabsetzung Marias
Für das Neue Testament gibt es also eine Reihe von Gründen, die Magdalena zu verehren. Doch Ende des 6. Jahrhunderts wird ihr Ansehen beschmutzt. Eine besonders unrühmliche Rolle bei der Rufschädigung spielt Papst Gregor I., der im Jahr 591 in seinen „Magdalenenpredigten“ festlegte, dass Maria die Frau sei, die Jesus anlässlich eines Festmahles die Füße gesalbt und mit ihren Haaren getrocknet habe. Jesus vergibt ihr die Schuld und nimmt sie gegenüber den anderen Gästen in Schutz.

Im 13. Jahrhundert wird an der rufschädigenden Legende weitergestrickt. Sie, die treue Begleiterin Jesu, habe sich nach dessen Himmelfahrt ganz dem Sex hingegeben, ja sich prostituiert. Auf abenteuerliche Weise sei sie schließlich nach Südfrankreich gekommen, wo sie 30 Jahre lang in Askese ihre Sünden bereut habe. In der Provence schließlich sei sie gestorben und begraben worden. Diese Büßerin hat Donatello dargestellt.

Die Frau mit den offenen Haaren ist nicht Maria Magdalena
Die Rehabilitierung der Maria beginnt mit der biblischen Geschichte der Fußwaschung des Lukasevangeliums, über die auch Gregor redet. Der Evangelist erzählt von einem Festessen. Jesus ist im Hause eines angesehenen Mannes eingeladen. Nachdem sich die Männer auf gemütlichen Sofas zu Tische gelegt haben, nähert sich eine Frau dem Ehrengast von hinten und reibt mit Salböl seine Füße ein. Sie beginnt zu weinen, benetzt seine Füße mit ihren Tränen, trocknet sie mit ihren Haaren, woraus zu schließen ist, dass sie offenbar dafür ihr Kopftuch abgenommen hat. Der Gastgeber empfindet das Verhalten der Frau als unschicklich und befürchtet eine rituelle Verunreinigung seines Gastes. Jesus aber deutet die Tränen der Frau als Zeichen ihrer Reue und vergibt ihr die Schuld. Welcher Sünde sie sich schuldig gemacht hat, wird nicht gesagt. Das offene Haar dieser Frau aber hat zu allen Zeiten die Fantasie der Ausleger angeregt. Lukas erzählt vielfach von Maria Magdalena, doch in dieser Geschichte fällt ihr Name nicht. Die weinende Frau ist namenlos. Sie ist nicht Maria Magdalena. Gregors Gleichsetzung ist eine absichtsvolle Verdrehung der biblischen Überlieferung.

Im Johannesevangelium findet sich eine weitere Festmahlgeschichte. Auch hier werden Jesus von einer Frau die Füße gesalbt. Ihr Name ist Maria von Betanien, mit der Magdalena hat sie nur den Vornamen gemeinsam. Sie ist die Gastgeberin des Abends. Niemand sieht in ihr eine Sünderin.

Die weinende Frau im Lukasevangeliums mit Maria Magdalena gleichzusetzen, kann sich also nicht auf das Neue Testament berufen und ist eine Herabsetzung der ehemals hoch angesehenen Wegbegleiterin Jesu. Für die Kirche der Männer war es im Laufe der Jahrhunderte zu einer Provokation geworden, dass eine Frau dem Erlöser nahegestanden haben, ja möglicherweise vertrauter mit ihm gewesen sein könnte als die hoch verehrten Apostel, in deren Nachfolge sich Papst Gregor selbst sah. Eine Rufschädigung post mortem musste also her, die sich einer bewussten Vermengung biblischer Geschichten bediente. Sie machte die wichtigste Jüngerin Jesu und erste Zeugin seiner Auferstehung zur Sünderin und Büßerin.

Petrus gründete die Kirche, Maria muss büßen.
Die Kirche fürchtete sich jahrhundertelang vor dem weiblichen Geschlecht und verurteilte seine Lust, lebte aber das männliche Gegenstück eigensüchtig aus. Donatellos Darstellung von Maria Magdalena als ausgemergelte Büßerin wird den Männern der Kirche Genugtuung verschafft haben. Der Narrativ, der aus ihr eine Dämonin macht, hat in jedem Fall eines übersehen: Jesus hatte der Frau, die ihm die Füße salbte, ihre Sünden bereits vergeben. Welcher Art sie auch immer gewesen sein mögen.

Aber wäre es schlimm, wenn Jesus und Maria mehr füreinander gewesen wären als Meister und Jüngerin? Welche ihm zugeschriebene Ehre würde es verletzen?

Literatur und Links
Corinna Mühlstedt, Maria Magdalena, die verkannte Zeugin. Deutschlandfunk
Agathe Lukassek, Maria Magdalena, Apostelin mit verruchtem Image. Katholisch.de
Silke Petersen, Maria aus Magdala. Bibelwissenschaft.de
Simon Demmelhuber, Apostolin oder Apostel? BR.de

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