90 Jahre Pünktchen und Anton. Wie ein kleines Mädchen dem Lehrer ihres Freundes hilft, sein pädagogisches Koordinatensystem neu auszurichten

©Atrium Verlag AG, Zürich 2021

Pünktchen heißt eigentlich Luise Pogge. Am Freitag endet ihre Schule eine Stunde früher. Da kommt der Fahrer ihres Vaters mit seiner großen Limousine, um sie abzuholen. So ist es auch an diesem Tag. Doch anders als sonst fährt er sie heute nicht nach Hause. Pünktchen nennt dem Chauffeur eine Adresse, zu der sie gebracht werden möchte. Der tut, was die kleine Tochter seines Chefs ihm befiehlt und fährt sie zum Eingang einer großen Schule. Dort ist gerade Pause.

Mit Herzklopfen, aber ohne Zögern begibt sich das kleine Mädchen auf dem kürzesten Weg zum Lehrerzimmer und lässt sich zu Herrn Bremser führen. Mit ihm beginnt sie ein Gespräch, das der erfahrene Pädagoge noch nicht erlebt hat.

So beginnt das achte Kapitel von Erich Kästners Kinderbuch Pünktchen und Anton, das am 26. November 1931 erschien. Nach Emil und die Detektive war es sein zweiter Roman für Kinder.

©Atrium Verlag AG, Zürich 2021

Walter Trier, der über viele Jahre die Kinderbücher Erich Kästners gestaltete, hat diese Szene mit einer Tuschezeichnung illustriert. Sie zeigt den glatzköpfigen übergewichtigen Herrn Bremser mit Krawatte, Weste und schlechtsitzendem Jackett an die Fensterbank gelehnt. Er versucht, Selbstsicherheit zu demonstrieren. Aber seine hoch gezogenen Schultern und die verschränkten Arme verraten Unsicherheit: Er ist in der Defensive. Durch seine winzigen kreisrunden Brillengläser fixiert er das Mädchen, das da mutig vor ihm steht und gestenreich sein Anliegen vorträgt. Sie scheint sich ihrer Sache sicher zu sein: Dieser große Erwachsene muss etwas ganz Wichtiges verstehen. Und sie, das Kind, kann es ihm erklären.

Die Kollegen im Lehrerzimmer, denen Pünktchen aufgetragen hat, sich an ihre Plätze zu begeben und sich still zu beschäftigen, sind nun doch aufgestanden und lauschen stehend der jungen Besucherin. Ihre Gesichter verraten Neugierde, Ablehnung und Erstaunen, aber keine Missachtung. In der Tat ereignet sich gerade Ungewöhnliches. Wo eben noch Kinder unterrichtet wurden, belehrt nun ein kleines Mädchen einen Lehrer.

„Sie kennen doch den Anton Gast?“, fragt sie Herrn Bremser. „Er geht in meine Klasse“, antwortet der. Pünktchen weiß, dass er mit Anton nicht zufrieden ist und einen Brief an die Mutter schreiben will. Anton ist in der Stunde einmal eingeschlafen und auch die Hausaufgaben lassen zu wünschen übrig. Herr Bremser erkennt an, dass Pünktchen gut informiert ist und ergänzt ihren Bericht – wenig diskret – mit weiteren „Missetaten“ seines Schülers. „Der Brief an seine Mutter geht heute noch ab“, schließt er.

„Nun hören Sie mal gut zu.“ Pünktchen geht in die Offensive. Anton sei ihr Freund, lässt sie ihren Gesprächspartner wissen. Die Mutter ihres Freundes könne wegen einer Operation seit Wochen nicht das Bett verlassen. Er müsse einkaufen und für seine kleine Familie kochen.

„Das wusste ich nicht“, antwortet Herr Bremser.

Pünktchen kommt nun langsam in Fahrt. Anton müsse auch das Geld für den Haushalt verdienen.

„Das wusste ich nicht“, wiederholt Herr Bremser.

„Was wissen Sie denn überhaupt?“, fragt ihn Pünktchen. Die Umstehenden lachen, doch Pünktchen meint es ernst. Der beabsichtigte Brief sei dem Gesundheitszustand der Mutter gewiss nicht förderlich und sicher würde auch Anton davon krank werden.

Um die Bedingungen, unter denen Anton zur Schule geht und seine Hausaufgaben macht, hat sich Herr Bremser nie gekümmert. Immerhin aber erweist er sich als gelehriger Schüler seiner jungen Lehrerin. Er verspricht, den Brief nicht zu schreiben. Doch als Pünktchen dem Lehrer für sein Einlenken gedankt und wieder im Dienstwagen ihres Vaters sitzt, ist mehr geschehen, als dass ein Brief nicht abgesendet wird. Sie hat dem erfahrenen Lehrer geholfen, Antons belastetes Familiensystem in sein pädagogisches Koordinatensystem einzufügen. Herr Bremser hat dazu einiges über den Charakter seines Schützlings gelernt, den Stolz und Scham dazu zwingen, seine Lebensverhältnisse zu verschweigen. Vor allem aber liebt er seine Mutter und tut alles, um sie zu entlasten und zu schützen. Der neue Blick auf das Kind, das da in der hölzernen Schulbank vor ihm sitzt, wird sein Lehrerverhalten ändern. Er wird ihn „nicht mehr herunterputzen“, wie der Autor in einem Kommentar zu diesem Kapitel, einer sogenannten Nachdenkerei, kommentiert.

Mit Lehrer Bremser setzte Erich Kästner, der in seiner Jugendzeit selbst Lehrer werden wollte, dem gleichnamigen Pädagogen seiner Kindheit ein Denkmal. In seiner Autobiografie Als ich ein kleiner Junge war beschreibt er ihn als einen gemütlichen Mann, vor dessen Strenge er sich nicht fürchtete. Nur das Schulhaus deprimierte ihn. Als er aber als junger Seminarist im Fletscher’schen Lehrerseminar schon bald die Dozenten vertreten musste, die zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, fand er heraus, warum. Sie glichen den Kasernen seiner Heimatstadt Dresden. Das kam nicht von ungefähr. Die Werte, die er als angehender Lehrer vermitteln sollte, bereiteten auf den Gehorsam und die willenlose Unterordnung vor, die den Soldaten seiner Zeit abverlangt wurden und unter denen er auch als Rekrut litt. Als der erste Weltkrieg beendet war, kehrte Kästner 19-Jährig nach Hause zurück und bat seine Eltern um Unterstützung, um studieren zu können. Lehrer wollte er nicht mehr werden.

Gut 20 Jahre nach Pünktchen und Anton veröffentlichte Kästner eine Rede, in der er, inzwischen ein berühmter Schriftsteller, ein pädagogisches Leitbild beschrieb, das auch in den 50er Jahren noch provokativ gewirkt haben musste. In seiner Ansprache zu Schulbeginn forderte er die ABC-Schützen auf, sich die Kindheit nicht austreiben zu lassen. „Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut.“ Doch „nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch.“ War nach dem Ende der Diktatur eine menschenfreundlichere Pädagogik in die Schulen eingezogen? „Misstraut euren Schulbüchern!“, fordert er die Erstklässler auf. Sie sind „nicht auf dem Berg Sinai entstanden, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind.“ Deutlicher konnte er es kaum sagen: In den Schulen der Nachkriegszeit begegnete er noch dem Geist, der ihn einst daran gehindert hatte, Lehrer zu werden.

Seit dieser Ansprache sind fast 70 Jahre, seit dem Erscheinen von Pünktchen und Anton genau 90 Jahre vergangen. Kästners pädagogische Kritik, vorgetragen von Pünktchen, war damals verdächtig und revolutionär. Es dauerte Jahrzehnte, bis die von ihm herbeigesehnte pädagogische Haltung konsensfähig wurde. Unterordnung unter die Autoritäten von Schule und Staat sind nicht länger Erziehungsziel, sondern die selbstbewusste Mitgestaltung des Lern- und Lebensraums Schule. Kinder und Jugendliche dürfen einfordern, als Individuen wahrgenommen zu werden, die in Freiheit und ohne Angst lernen können. Wo soziale und psychische Belastungen sie daran hindern, dürfen sie Unterstützungssysteme in Anspruch nehmen.

Und dennoch ist Pünktchens Mahnung, die eine einfache Wahrheit ausspricht und dafür eine angemessene Form wählt, weiterhin aktuell: Die Schule wird ihrer Bildungsaufgabe nur gerecht, wenn sie in den Lernenden die Menschen sieht. Die Worte an den Lehrer Bremser haben ihre Aktualität nicht verloren. Fruchtbare Wissensvermittlung, Kompetenzerwerb und Bildung sind nicht ohne wertschätzende Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden denkbar. Kästner lässt keinen Zweifel daran, wem er in diesen zwischenmenschlichen Fragen die größere Kompetenz zuspricht.

Seine Ansprache zum Schulbeginn beendet er deshalb mit einer Aufforderung an die Erwachsenen: „Liebe Eltern, wenn Sie etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!“

Die Verwendung der Bilder erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Atrium-Verlags Zürich
https://www.w1-media.de/produkte/puenktchen-und-anton-1327?verlag=atriumkinderbuch

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