
Zwei junge Frauen halten lächelnd einen Bambi in der Hand. Es ist ein Foto aus dem Jahr 2016 und erzählt eine Geschichte aus dem August des Jahres 2015. Dieses Bild im Haus der Geschichte in Bonn hat mich zu einer Recherche angeregt.
Sara und Yusra Mardini, zwei Schwestern aus Damaskus, trainieren bei ihrem Vater. Als Leistungsschwimmerinnen vertreten sie die Republik Syrien bei internationalen Wettkämpfen. Doch dann kommt der verbrecherische Krieg, der das ganze Land und seine Menschen in den Abgrund reißt. Im Jahr 2012 begannen die Luftangriffe auf Damaskus. Zunächst trainieren die beiden Schwestern weiter, sie sind auch noch zu jung, um über Alternativen nachzudenken. Doch im vierten Jahr des Krieges ändert sich das. Bekannte kommen ums Leben, sie können nicht mehr regelmäßig zur Schule oder in die Uni gelangen. Dann müssen sie auch das Schwimmen aufgeben. Nun liegt es klar auf der Hand: In Syrien gibt es für sie keine Zukunft. Und so entschließen sie sich, ihr Land zu verlassen. Sie sind 19 und 17 Jahre alt. Ihre Eltern haben sich entschlossen, mit ihrer jüngsten Schwester in Syrien zu bleiben, doch auf ihre Unterstützung können sie zählen.
Sara und Yusra verlassen ihr Land nicht aufgrund politischer Verfolgung. Auch die Aussicht auf die „Fleischtöpfe Europas“ ist nicht ihr Motiv. Sie lassen ihre Eltern und ihre kleine Schwester zurück, weil die politische Führung ihres Landes sie und viele andere junge Menschen aller Chancen beraubt, sich in ihrem Heimatland ein Leben mit Perspektive aufzubauen. Der Krieg wird noch lange dauern, das wissen sie. So nehmen sie die Verantwortung für ihr Leben selbst in die Hand.
„Weißt du“, sagt Yusra, die jüngere der beiden, später in einem Interview mit dem österreichischen Rundfunk, „nach vier Jahren Krieg konnte ich nicht mehr. Ich habe mich jeden Tag gefragt: Wozu lebe ich eigentlich? Wozu lerne ich? Es ist so schwer, wenn du gar nichts machen kannst. Du sitzt da und wartest nur, ob du am nächsten Tag noch lebst. Außerdem wollte ich schwimmen. Seit meinem vierten Lebensjahr war es mein Ziel, als Schwimmerin bei der Olympiade zu schwimmen. Ich habe so hart dafür trainiert – auch noch während des Krieges. Aber irgendwann fiel eine Bombe in die Schwimmhalle und auch das war vorbei. Dann haben meine Schwester Sara und ich beschlossen, die Flucht nach Europa anzutreten. Wir wussten, dass es sehr gefährlich ist. Aber in Syrien auf den Tod zu warten, war keine Option. Auch meine Eltern haben das verstanden und haben uns gehen lassen.“
Mit zwei Verwandten reisen sie in die Türkei. Von Schleppern vermittelt, besteigen sie im August 2015 mit einer 20-köpfigen Gruppe ein Schlauchboot, das für 7 Personen ausgelegt ist. Die Überfahrt nach Lesbos soll 45 Minuten dauern. Doch nach einer Viertelstunde fällt der Außenbordmotor aus. Wasser läuft in das völlig überfüllte Boot. Handy-Anrufe zur türkischen und zur griechischen Küstenwache bleiben erfolglos. Neben den beiden Schwestern befinden sich noch 16 Männer, eine weitere Frau und ein Kind an Bord. Kaum einer kann schwimmen. Alle sind voller Angst. Sie werfen Ballast ab. Am Ende haben die Schwestern nur noch ein T-Shirt, eine Jeans, ihr Handy und ein wenig Geld.
Dann springen Sara und Yusra sowie zwei Männer ins Wasser. Sie ziehen und stoßen das Boot mit der kostenbaren Fracht in Richtung der griechischen Insel Lesbos. Sie kämpfen gegen Wind und Wellen. Die Männer wechseln sich ab, Sara und Yusra halten durch. Das harte Schwimmtraining des Vaters kommt ihnen nun zugute: „Auf dem Boot kannst du nicht aufgeben. Das ist dein Leben. Und du probierst bis zur letzten Chance.“ Nach drei Stunden erreichen sie frierend und völlig erschöpft das Ufer der griechischen Insel.
Über die Balkanroute kommen sie dann nach Deutschland. Sie lernen die Willkommenskultur dieser Tage kennen. Sie stehen in langen Schlangen, schlafen in Massenunterkünften, sind geduldig, doch Türen öffnen sich zunächst nicht. Dann werden sie auf die Wasserfreunde Spandau 04 aufmerksam. Sie bekommen eine Einladung zum Training und können wieder ihren Leistungssport betreiben. Hier sind sie nicht mehr nur „die Flüchtlinge“, sondern junge Frauen, die etwas können und Ziele haben. „Ich möchte für das gesehen und anerkannt werden, was ich bin und was ich leiste: Ich bin eine Schwimmerin“, sagt Yusra.
Hartes Training macht es möglich. Yusras Traum geht in Erfüllung. Sie darf mit dem „Refugees Team“ an den Olympischen Spielen 2016 in Rio teilnehmen und schwimmt dort Butterfly und Freistil. Sie trifft Barack Obama, der sie ermutigt, stark zu sein und ihren Weg zu gehen. Sie wird 2017 zur jüngsten Sonderbotschafterin des Flüchtlingswerkes UNHCR ernannt. Das ermöglicht ihr, Millionen junger Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, eine Stimme zu geben. 2018 verlässt sie Berlin und wechselt nach Hamburg. Sie trainiert dort für die Olympischen Spiele in Tokyo. Doch die Pandemie stellt ihre Pläne nun in Frage. Ob sie 2021 teilnehmen darf, kann sie noch nicht sagen. Nach dem Ende ihrer Sportlerinnenkarriere möchte sie studieren.
Ihre ältere Schwester Sara hat einen anderen Weg genommen. Wegen Schulterschmerzen, die von einer Verletzung auf der Flucht herrühren, muss sie das Schwimmen aufgeben. Wie Yusra lernt sie deutsch, engagiert sich für Flüchtlinge und kehrt nach Lesbos zurück, um dort zu helfen. Sie ist ein politischer Mensch: „Im Mittleren Osten steht der Mann im Vordergrund“, sagt sie. „Manchmal wissen Frauen gar nicht, dass sie eine eigene Stimme haben können. Auch das zeigen wir. Ich habe mich in Syrien oft eingeengt gefühlt. Wenn ich in den Flüchtlingscamps bin, zeige ich den Kindern, dass ich zu ihnen gehöre, dass ich ein Flüchtling aus Syrien bin, und dass ich eine Frau bin, die arbeitet und redet. Das ist meine Art, Dinge zu ändern.“ Immer wieder kehrt sie nach Lesbos zurück, denn sie möchte Menschen helfen, die sich in einer ähnlichen Situation wie sie selbst befinden. Sie arbeitet als Übersetzerin für NGOs und hilft bei der Erstversorgung.
Fast genau vier Jahre nach ihrer Ankunft wird sie in Griechenland verhaftet. Ihr wird vorgeworfen, Spenden für die Arbeit mit Flüchtlingen eingeworben zu haben. Die Anklage sieht darin den Tatbestand der Geldwäsche erfüllt. Außerdem werden ihr Menschenhandel und Spionage vorgeworfen, denn sie habe Kontakt mit Schlepperorganisationen gesucht. Sie verbringt fast vier Monate im Gefängnis, bis sie durch Hilfe des Auswärtigen Amtes gegen eine Kaution freigelassen wird. Zurück in Berlin beginnt sie ein Studium, das ihr durch ein Stipendium ermöglicht wird. Ihr Anwalt sei optimistisch, sagt sie, aber noch wartet sie auf den Prozess. Ihr Ziel ist es mit einer eigenen Hilfsorganisation Menschen, die auf der Flucht sind, tatkräftig zu unterstützen.
„Ich weiß, dass ich weiter für eine Welt ohne Grenzen kämpfen werde. Eine Welt, in der es keine Rolle spielt, woher man kommt, welche Hautfarbe man hat oder welcher Religion man angehört. Wir sind alle gleich. Wir müssen anfangen, an diese Idee zu glauben. Ich werde immer für eine Welt kämpfen, in der alle gleich sind“, sagt sie globalcitizens.org in einem Interview.
Inzwischen leben auch die Eltern der beiden Schwestern mit ihrer jüngsten Tochter in Deutschland. Fünf Jahre nach ihrer Flucht haben Sara und Yusra alles über ihre dramatische Flucht erzählt. Sie wollen nun nicht mehr gefragt werden, wie sie sich im Wasser gefühlt oder ob sie Todesangst gehabt hätten. Doch „meine Geschichte“, sagt Yusra, „zeigt, dass man es trotz aller Not schaffen kann. Deswegen erzähle ich sie, um andere Flüchtlinge zu ermutigen, Würde einzufordern.“
Links
https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/syrische-schwimmerinnen-werden-zum-idol-15112934-p3.html
https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-syrische-schwimmerin-yusra-mardini-vom-fluechtling-zum.970.de.html?dram:article_id=446842
https://fm4.orf.at/stories/2984222
https://www.welt.de/sport/article207774701/Yusra-Mardini-Ich-habe-den-Krieg-erlebt-Corona-ist-wie-Urlaub.html
https://www.globalcitizen.org/de/content/how-sarah-mardini-saved-lives-of-fellow-refugees/
https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingshelferin-geflohen-gefeiert-verhaftet-1.4110188-2
Blogbeiträge zum Thema auf http://www.horstheller.de
05.04.2020: Warum wir Bonhoeffer nicht der neuen Rechten überlassen dürfen
02.08.2020: Wir sind gleich. Wir müssen endlich anfangen, an diese Idee zu glauben. Eine Recherche zu Sara und Yusra Mardini
08.09.2020: Warum wir die Unterscheidung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus aufgeben sollten – Ein Vorschlag
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