„Ich bin da.“ Ein Name aus vier Buchstaben ist ein Geheimnis und zugleich eine Offenbarung. Gedanken zur biblischen Geschichte von Mose

Horst Heller
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Wir heißen Horst, Tanja oder Adolf. Unsere Vornamen haben wir uns nicht selbst gegeben. Und doch sagen sie etwas über uns selbst aus, zumindest über das Umfeld, aus dem wir kommen. Mose, der Sohn einer israelitischen Mutter und Schwiegersohn eines midianitischen Priesters hat einen ägyptischen Namen, der ein Licht auf seine Kindheit wirft. Er ist der Adoptivsohn einer ägyptischen Prinzessin, die ihm das Leben gerettet hat. Als Erwachsener hat eine Gotteserscheinung in der Wüste. Er sieht einen brennenden Dornbusch, doch als er näher hinzutreten will, hört er eine Stimme: „Halte Abstand und ziehe die Schule aus!“ Wer spricht da zu ihm? Hat diese Stimme einen Namen?

Die Zeichnung von Jan P. Grüntjes stellt die Präsenz des Göttlichen durch vier hebräische Buchstaben dar, wie es einst Marc Chagall auf seinem berühmten Gemälde getan hat. Das Tetragramm (wörtlich: „Die vier Buchstaben“) JHWH, hebräisch יהוה, ist der geheimnisvolle Name Gottes.

aus dem Erzähltext der Unterrichtsreihe Dornbusch, Freiheit und Gebote Gottes von Nadine Klimbingat und Horst Heller
Da stand ein Strauch in Flammen. Aber etwas war anders als sonst. Das Feuer brannte und brannte und brannte, doch der Busch verbrannte nicht. „Ich will nachsehen, was das für ein seltsames Feuer ist“, dachte er. Da hörte er eine Stimme aus dem brennenden Busch: „Bleib stehen und ziehe deine Schuhe aus, Mose! Du darfst Gott nicht näherkommen.“
Dann hörte er wieder die Stimme: „Ich bin der Gott, zu dem deine Mutter, die dich geboren hat, dein Vater und deine Großeltern gebetet haben. Ich habe zu Abraham, zu Isaak und zu Jakob geredet. Ich habe gesehen, wie die Israeliten in Ägypten geschlagen werden. Ich habe gehört, wie sie weinen. Du bekommst von mir eine Aufgabe: Gehe nach Ägypten! Tritt vor den Thron des Pharao und sage ihm: „Lass mein Volk frei!“ Und dann führe dein Volk aus der Gefangenschaft! Ich werde euch das Land geben, das ich schon Abraham versprochen habe, in das Land, in dem Milch und Honig fließen.“ …
Mose entgegnete: „Wenn ich zu den Israeliten gehe und zu ihnen sage: ‚Gott hat mich zu euch geschickt. Er wird euch befreien‘, dann werden sie mich fragen: „Wer ist dieser Gott? Wie ist sein Name? Was soll ich ihnen dann antworten?“ Die Stimme aus dem brennenden Busch antwortete: „Sage ihnen wie ich heiße. Mein Name ist: ICH BIN DA.“

Die Stimme, die er hört, ist offenbar göttlich und flößt ihm Respekt ein. Aber welche Gottheit spricht da zu ihm? Viele Fragen gehen ihm durch den Kopf, auf die er Antworten braucht. Mindestens aber muss er den Namen dieses Gottes erfahren. Er fragt also danach und erhält er eine ungewöhnliche Antwort: „Ich bin, der ich bin“, oder: Ich werde sein, der ich sein werde.“ So jedenfalls übersetzen die Lutherbibel und die Basisbibel die hebräische Antwort aus dem Dornbusch.

Aus dem Lateinunterricht unserer Schulzeit wissen wir: Wörtlich übersetzt bedeutet nicht unbedingt gut übersetzt. In den Ohren unserer Zeitgenossen klingt das „Ich werde sein, der ich sein werde“ wie eine Tautologie. Eine philosophische Wahrheit vermag ihr kaum jemand zu entlocken. Dabei ist der Nebel, der das Göttliche vor dem Menschen verbirgt, durchaus beabsichtigt. Aber die Selbstvorstellung Gottes enthält etwas, was Moses Fragen beantwortet und auch dem gegenwärtigen Menschen etwas bedeuten könnte.

Der Gott, dessen Stimme Mose hört, fühlt mit den Leidenden. Es ist ihm nicht egal, dass Menschen gequält und geschunden werden. Er hat sich entschlossen auf die Seite der Unterdrückten gestellt. Er wird Mose zum Pharao schicken und ihn begleiten, um dort das Unrecht zu beenden. Er verspricht, das Volk, von Mose angeführt, auf seinem Weg in die Freiheit zu geleiten. In der Wolken– und Feuersäule wird er ihnen den Weg weisen. Er wird sie vor den Soldaten des Pharao bewahren und schließlich in dem Land wohnen lassen, wo Milch und Honig fließen. Gott geht mit, bleibt dabei unsichtbar und unverfügbar, aber er ist nahe, empathisch und in verborgener Weise proaktiv anwesend. Er ist von nun an einfach da.

„Ich bin da.“ Diese drei kurzen Worte sind eine treffende Übertragung der Worte, die Mose in der Wüste hört. Ein ungewöhnlicher Name zwar, wie ihn sonst niemand trägt, aber passt er nicht gut? Schülerinnen und Schüler stellen immer wieder fest, dass dieses Ausdruck unsichtbarer Präsenz des Göttlichen gut zu ihnen eigenen Gottesvorstellungen passt und sie bereichert. Mir selbst geht es nicht anders.

Der Gottesname, nach jüdischer Tradition unaussprechlich, sollte übrigens auch im Unterricht nicht ausgesprochen werden, schon gar nicht mit dem J-Wort. Jüdische Menschen lesen Adonai, wenn das Tetragramm geschrieben ist. Die Erzähltexte machen zudem einen weiteren Vorschlag:

aus dem Erzähltext der Unterrichtsreihe Dornbusch, Freiheit und Gebote Gottes von Nadine Klimbingat und Horst Heller
Mitten in der Nacht machten sich die Israeliten auf den Weg. Die sterblichen Überreste ihres Vorfahren Josef trugen sie mit sich, denn bevor Josef gestorben war, hatte er seinen Kindern und Enkel gesagt: „Wenn ihr oder eure Nachkommen eines Tages dieses Land verlasst und nach Kanaan zurückkehrt, dann nehmt meine Gebeine mit.“
„Wohin gehen wir, Mose?“, flüsterten die Menschen. „Wir ziehen durch die Wüste.“ „Durch die Wüste?“ Es gab Protest. „In der Wüste gibt es keine Wege. Es ist Nacht! Wir werden uns verirren.“ Da sahen sie eine Feuersäule. Sie reichte vom Boden bis in den Himmel. Sie zog vor ihnen her. „Seht!“, rief Mose. „Der Gott, der ICH BIN DA heißt, geht mit uns.“
Am Morgen ging die Sonne auf. Die Feuersäule der Nacht verblasste. Wieder gab es Unmut. „Wir haben unseren Wegweiser verloren. Wir werden uns verirren!“ Da sahen sie eine Wolkensäule. Sie reichte vom Boden bis in den Himmel und zog vor ihnen her, genauso wie die Feuersäule in der Nacht. „Seht!“, rief Mose. „Der Gott, der ICH BIN DA heißt, geht mit uns.“

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