Vor einem Jahr: Borys Romantschenko, ein Überlebender von Buchenwald, stirbt durch eine russische Bombe

Horst Heller (Text: CC BY-SA 4.0)
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Von Szymon Kwapiszewski – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=121627964

In Weimar war ich auf sein Bild aufmerksam geworden. Der alte Herr schaute mich mit ernstem Gesicht an. Sein überdimensionales Portrait war Teil einer Freiluftausstellung mit Bildern des Fotografen Thomas Müller. Sein Name: Borys Romantschenko, ein Überlebender von Buchenwald. Er hatte von 1945 bis 1950 der Roten Armee gedient. Am 18. März 2022 wurde er 96-jährig durch einen Angriff dieser Armee auf seine Stadt getötet.

Borys Romantschenko wurde 1926 im Nordosten der Ukraine geboren und im Alter von 16 Jahren von der deutschen Besatzung zur Zwangsarbeit in Dortmund verpflichtet. Er unternahm einen Fluchtversuch, wurde gefasst und ins Konzentrationslager deportiert. Er verbrachte Jahre in Buchenwald, Peenemünde, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Nach seiner Befreiung wurde für weitere fünf Jahre zum Dienst in der sowjetischen Armee in Ostdeutschland verpflichtet. Erst 1950 konnte er in seine Heimat zurückkehren.

In den letzten Jahren hatte er sich als Zeitzeuge für die deutsche Erinnerungsarbeit engagiert. Am 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald hatte er auf dessen ehemaligen Appellplatz in russischer Sprache den „Schwur von Buchenwald“ verlesen, den die Überlebenden dort am 19. April 1945 feierlich geleistet hatten: „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal …“

Er hatte an dieses Ideal geglaubt und es nicht für möglich gehalten, dass es nach den Erfahrungen zweier Weltkriege noch einmal einen Krieg in Europa geben könnte, erzählt seine Enkelin, die ihn in seiner Wohnung täglich besucht und versorgt hatte. Doch dann griff die russische Armee, deren Orden er gerne und bis ins hohe Alter zeigte, seine Heimatstadt an. Die Fahrstühle waren abgestellt, die Treppen hinunterzugehen, traute er sich nicht mehr zu. Die Pandemie machte ihm zusätzlich Angst. Sechs Stockwerke seines Wohnblocks wurden völlig zerstört. Borys Romantschenko konnte sich nicht in Sicherheit bringen, er verbrannte in seinem Bett. Seine Bergung und seine Beerdigung geschahen unter Lebensgefahr, weil das russische Militär den Beschuss fortsetzte.

Boris Romantschenko ist „nur“ eines der Opfer des Krieges in der Ukraine. Ungezählte Menschen auf beiden Seiten haben Hoffnung, Wohnung und Familienmitglieder, Tausende auch ihr Leben verloren. Der Angriff auf das Land von Borys Romantschenko ist ein Verbrechen, dessen Lüge durch seinen Tod entlarvt wird. Die russische Artillerie befreit kein Land von einer faschistischen Herrschaft. Der Krieg ist die Rückkehr des Imperialismus nach Europa, der zerstört, was sich ihm in den Weg stellt und auch die tötet, die wirklich unter dem Faschismus gelitten haben.

Weiterführende Links
„Er hat nicht gedacht, dass ein Krieg im 21. Jahrhundert möglich ist.“ Ein Interview mit der Enkelin von Borys Romantschenko, Deutschlandfunk
Die Nazis überlebt, die russischen Bomben nicht. Ein Gespräch mit Vladimir Balzer. Deutschlandfunk Kultur
Der Bundestag erhebt sich in Gedenken an Boris Romantschenko. Deutscher Bundestag Dokumente
Die Straße vor dem Russischen Generalkonsulat erinnert bald an Boris Romantschenko. Leizpiger Zeitung

Blogbeiträge von Horst Heller auf http://www.horstheller.de
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18.03.2023: Vor einem Jahr: Borys Romantschenko, ein Überlebender von Buchenwald, stirbt durch eine russische Bombe
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