

Am 30. Januar hatte der greise Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. 55 Tage später wurde die Weimarer Reichsverfassung an dem Ort öffentlich zu Grabe getragen, an dem sie verabschiedet worden war. (Außer Kraft gesetzt war sie bereits vorher.) In einem symbolischen Akt trugen SA-Männer am 26. März 1933 die Gedenktafel weg, die an die verfassungsgebende Versammlung des Jahres 1919 erinnerte. Der Demontage der Erinnerung an die Demokratie folgte die Demontage der Demokratie selbst.
Nur gut 10 Jahre hatte die Bronzetafel an der linken Stirnseite des Deutschen Nationaltheaters Weimar an die Nationalversammlung erinnert, die hier getagt hatte. Am 11. August 1922, dem Verfassungstag der Weimarer Republik, war sie feierlich enthüllt worden. Ihr Text war in einem langen Abstimmungsprozess bestimmt und vom Bauhaus-Gründer Walter Gropius gestaltet worden. Nicht nur der Text, auch ihre Ästhetik muss den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge gewesen sein, denn Gropius hatte für die Inschrift die modernen und schlichten Großbuchstaben verwendet, die für das Bauhaus typisch sind.

Die Anordnung zur Entfernung der Gedenktafel kam vom thüringischen Volksbildungsministers Fritz Wächtler. Er beauftragte den Weimarer Schlossermeister Paul Schulze mit der Abnahme. Die Aktion wurde von Partei oder SA fotografiert und unter der Überschrift „Die Schmach ist ausgelöscht“ ideologisch kommentiert. Die Thüringer Parteizeitung Der Nationalsozialist merkte am gleichen Tag in schlechtem Deutsch an:
„Da die Inschrift dieser Tafel eine infame Lüge darstellt und Lügen im neuen Staate ausgemerzt werden, war es eine Selbstverständlichkeit, dass diese Tafel verschwinden musste. … Der Entwurf stammt von dem kommunistischen einstigen Weimarer Bauhausleiter Gropius, dem ‚Liebling‘ der einstigen Landesregierung, der von 1919 bis 1925 hier ‚wirkte‘! … Die Tafel war so fest in das Mauerwerk eingelassen, als müsste sie Jahrhunderte dort bleiben. Die neue Zeit hat schon andere Taten vollbracht, sie hat also vor der Tafel der Schmach keinen Halt gemacht.“ (Quelle)
Die schwere Bronzetafel wurde eingelagert und glücklicherweise nicht eingeschmolzen. Nach Kriegsende wurde sie an der bisherigen Stelle wieder angebracht.
Warum erinnert dieser Blogbeitrag an dieses Ereignis? Weil im Rückblick sichtbar wird, wie geradlinig, konseqent und offensichtlich die antidemokratischen Kräfte vor 90 Jahren, vorgingen, nachdem sie erst einmal die Macht in den Händen hielten. Sie zerstörten die Liberalität, den Rechtsstaat und alle Mitwirkungsrechte.
Desmond Tutu hat einmal geschrieben: „Aus der Geschichte lernen wir, dass wir nichts aus der Geschichte lernen.“ Hoffen wir, dass er sich diesmal irrte.
Weiterführender Link:
Frank Boblenz, Gedenktafel für die Weimarer Verfassung von 1919 am Deutschen Nationaltheater Weimar. Ein Thüringer Auftragswerk für Walter Gropius
Blogbeiträge von Horst Heller auf www.horstheller.de
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