Immanuel Kant und Jesus von Nazareth diskutieren im Himmel. Ich lausche ihrem Dialog.

Horst Heller
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Stelle dir vor, Jesus von Nazareth und Immanuel Kant treffen sich anlässlich des 300. Geburtstags des Königsberger Philosophen zu einem Symposion im Himmel. Große Philosophen wie Jean Paul Sartre und viele Engel sind anwesend. Jesus wird heute seine Goldene Regel darlegen und Immanuel Kant seinen kategorischen Imperativ. Mir ist gestattet worden, ihnen je eine Frage zu stellen.

Das Thema des wissenschaftlichen Diskurses ist die Lehre vom guten Handeln, die Ethik.

Jesus, der Ältere, darf beginnen. Sein Vortrag ist kurz und verständlich, seine Redezeit schöpft er nicht aus. „Euch ist gesagt, …“. Dieser Satz fällt mehrfach. Er unterstreicht, dass er keine neue Lehre vorträgt, sondern das, woran er glaubt, „nur“ akzentuiert zusammenfasst. Er habe kein neues Gesetz für uns, sagt er, auch keine zusätzlichen Regeln. Er zitiert die Gebote des Alten Testaments und legt Wert auf diese Kontinuität. Er fasst sie in einem Satz zusammen, den wir die Goldene Regel nennen:

Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch.

Seine Worte seien nicht schwer zu verstehen, sagt er am Ende seines Vortrags noch. Einfache Geister könnten sie ebenso nachvollziehen wie Menschen, die gerne um die Ecke denken.

Mir gefällt diese Goldene Regel. Mit meinen Worten drücke ich sie so aus:

Sei so zu deinem Mitmenschen, wie du willst, dass er zu dir ist.

Und ein Beispiel fällt mir auch ein: Wenn du nicht bestohlen werden willst, dann bestiehl auch nicht deinen Nachbarn.

Ich habe zwei Fragen an Jesus von Nazareth, aber nur eine darf ich stellen. Ich möchte wissen, ob die Goldene Regel von ihm selbst ist. Auf diese Frage glaube ich die Antwort schon zu kennen. Ich habe sie im Alten Testament gelesen:

Was dir selbst verhasst ist, das mute auch einem anderen nicht zu! (Tobit 4,19)

Die andere Frage stelle ich ihm: „Ist die Goldene Regel wirklich so einfach zu verstehen, wie du sagst, Jesus von Nazareth? Kinder müssen doch erst lernen, ihr Verhalten mit den Augen anderer zu sehen. Auch viele Erwachsene können keine fremde Perspektive einnehmen. Oder sie wollen es nicht und bestehen auf ihr vermeintliches Recht.“

Während ich rede, ahne ich seine Antwort. Jesus, der Lehrer, wird den Ball in mein Feld zurückspielen: Lehrt ihr die Menschen lehren, wie ich euch gelehrt habe. Und seine kurze Antwort bestätigt meine Ahnung. Er sagt. „Geht hin und lehrt ihr alle Völker!“ Eine religionspädagogische Antwort ist das, denke ich.


Doch dann ist Immanuel Kant an der Reihe. Wie Jesus ist er ein Gelehrter und hat Schüler um sich versammelt. Doch während Jesus „öffentliche Vorlesungen“ hielt, lehrte Kant in der Universität seiner Stadt. Er liebte das Geregelte, was Jesus nicht vergönnt war. Mit der Kirche hatte es der Philosoph aus Ostpreußen nicht so, er mied Gottesdienste, wo immer es ihm möglich war.

Sein Vortrag ist ganz anders als der von Jesus. Die Goldene Regel findet er gut, aber sie geht ihm nicht weit genug. Er beginnt mit einem wunderbaren Satz:

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt:
Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.

Dieser Satz gefällt mir, und er passt zu Kant. Wie die Menschen in Königsberg die Uhr nach den Spaziergängen des prominenten Professors richteten, war er auch in philosophischen Fragen auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten. Im Bereich der Natur verehrte er die Naturgesetze, aber es war überzeugt: Auch in ethischen Fragen muss es ein vollkommenes und ewiges Sittengesetz geben.

Das bedeutet: Die Goldene Regel bedenkt, wie es wäre, wenn andere mir das antun würden, was ich gerade für sie plane. Kant will aber, dass ich über die Konsequenzen für alle Menschen nachdenke.

Wie erkenne ich dieses „Naturgesetz der Ethik“? Als Philosoph der Aufklärung spricht Kant der Vernunft dafür die Kompetenz zu. Ihre Aufgabe ist es, den Willen des Menschen zu steuern, damit er sein Handeln nicht von Erfahrungen abhängig macht, die mal so, mal anders ausfallen können. Auch soll er nicht einfach auf sein Herz hören. Handlungen aus Neigung verdienen unter Umständen zwar Anerkennung und Hochschätzung. Aber nur die Vernunft kann bewirken, dass ein Mensch das Gute nicht nur tut, sondern dass er es tut, weil es ihm die Pflicht gebietet.

Ich muss an Friedrich Schillers Bonmot denken:

Gerne dien‘ ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung.
Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.

Gerne würde ich Kant fragen, was er zu Schillers Spottvers sagt. Doch mein Fragerecht will ich nicht verschwenden. Auch geht er ohnehin darauf ein. Gut an sich ist für Kant nicht eine bestimmte Tat, auch wenn sie Gutes bewirkt, sondern allein das Motiv dieser Tat. Ich muss also immer darüber nachdenken, welches Motiv meiner Handlung zugrunde liegt. Denn ohne Ausnahme folgt jede menschliche Tat einem bestimmten Motiv, meint Kant. Dabei spielt es keine Rolle, ob mir das bewusst ist oder nicht. Dieses Motiv nennt er Maxime.

An dieser Stelle macht Kant eine kurze Pause. Er will wohl, dass sich seine Zuhörer eine Konkretion überlegen. Ich versuche es mit dem Beispiel von vorhin: Wenn ich einen reichen Nachbarn bestehle, dann folge ich dem Leitsatz, der ungefähr so lauten könnte: „Wenn du Geld gebrauchen kannst, dann nimm es von dem, der es besitzt.“

Und nun, fährt Kant fort, mache aus deiner beabsichtigten Handlungsweise versuchsweise eine Vorschrift, die nicht nur für dich und für heute, sondern für alle Menschen und alle Zeiten gelten kann. Dieses Gedankenexperiment nennt er den Kategorischen Imperativ.

Handle nur nach derjenigen Maxime,
durch die du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz wird.

Ich prüfe diesen Leitsatz: Wenn Stehlen erlaubt ist, dann darf es jeder tun. Das würde nicht nur Chaos und Gewalt verursachen, es würde auch der Bedürftigkeit der Armen nicht abhelfen. Denn das gestohlene Geld wäre auch bei ihnen nicht sicher. Außerdem würde niemand mehr Geld sparen, da es ihm jederzeit legal entwendet werden könnte. Wo aber kein Geld mehr ist, gibt es auch nichts zu stehlen. Die Gestattung des Diebstahls würde also ins Leere laufen.

Jeder, der vernünftig nachdenkt, kommt zu diesem Schluss, denke ich. Ich beginne zu verstehen, warum Kant vom Sittengesetz mit höchster Ehrfurcht spricht. So fern er vielleicht auch der Kirche stand, so sehr musste er überzeugt sein, dass das moralische Gesetz ebenso wie die Naturgesetze ein Teil der Schöpfung Gottes ist.

Sein Vortrag ist zu Ende. Ich darf meine Frage an Kant stellen. Ich lege ihm einen Satz vor, den ich viele Male in Aufsätzen von Schülerinnen und Schülern und in Ausarbeitungen von Studierenden gelesen habe. Er lautet: „Letztlich muss das jeder für sich selbst entscheiden.“ Was meinst du dazu, Professor Kant?

Er antwortet: Um eine eigene Entscheidung kommt niemand herum. Und dennoch kann ich diesen Satz nicht unterstreichen. Das Tier handelt aus Instinkt, der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen und hat mit der Fähigkeit auch die Pflicht zum Nachdenken. Weil er das sittliche Gesetz der Pflicht erkennen kann, soll er es auch befolgen. Doch dann erinnert Kant daran, dass er zu Beginn seiner Vorlesung vom gestirnten Himmel über mir und dem sittlichen Gesetz in mir gesprochen hat. Das Gesetz der Pflicht ist also kein fremdes, sondern ein eigenes Gebot. Es zu befolgen, ist ein Akt der Freiheit und Autonomie. Ein aufgeklärter Mensch tut das Gute kraft seiner eigenen Entscheidung, nicht weil es ihm eine Gottheit befohlen hat. Aber er tut es. Ja, denke ich, der Mensch muss sich entscheiden, aber die Vernunft wird ihn immer wieder zu diesem Imperativ führen, der über allen denkbaren Normen steht.

Ich höre das gerne und frage mich: Sind die Zehn Gebote nicht auch Weisungen der Freiheit? Sie galten doch für die Israeliten in der Zeit nach dem Ende ihrer ägyptischen Gefangenschaft. Kann ich mir die Gebote der Bibel und die Bergpredigt Jesu nicht in freier Selbstbestimmung aneignen und sie befolgen, soweit es in meiner Kraft steht? Gibt es auch die Goldene Regel „in mir“?

Es passt doch beides gut zusammen, denke ich: Ein selbstbestimmtes Handeln und die Gebote der Bibel. Samt der Goldenen Regel Jesu, die sie zusammenfasst und uns zu einer vernünftigen Überlegung einlädt. Ich frage mich, ob Jesus das auch so sieht. Doch mein Fragerecht ist ausgeschöpft. Ich muss es wohl tatsächlich für mich selbst entscheiden.

Literatur:
Ralf Ludwig, Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ. dtv, 1999

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