Freude schöner Götterfunken: Bis 1990 verlief die innerdeutsche Grenze genau in Takt 697 bei „diesem Kuss der ganzen Welt“.

Sie wurde gespielt, als in Berlin die Mauer fiel. Sie erklang erneut am Vorabend der deutschen Einheit. In einer Fassung von Herbert von Karajan ist sie die offizielle Hymne der Europäischen Union. Sie steht für Europa, für Frieden und Verständigung.

Dabei ist die Originalpartitur der Sinfonie ein Sinnbild für die jahrzehntelange Zerrissenheit Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Handschrift der Sinfonie aus der Feder Beethovens war bis zum 2. Weltkrieg in der Alten Bibliothek in Berlin aufbewahrt worden. Um das Risiko einer Beschädigung durch Bombenangriffe zu verringern, wurde die Handschrift 1941 gesplittet und an drei verschiedene Orte verbracht. Dort überstand alles unbeschädigt den Krieg. Später sollte in Berlin wieder zusammengefügt werden, was zusammen gehörte. Aber zwei Teile befanden sich nun im Osten der Stadt, einer im Westen. Die innerdeutsche Grenze verlief genau bei Takt 697, in dem die Altstimmen singen: „… diesen Kuss der ganzen Welt.“

Mit dem Fall der Mauer wurden nicht nur die beiden Teile Berlins wieder zusammengeführt, sondern auch der Autograf der Ode an die Freude. Zehn Jahre später wurde der Autograph in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen.

Vielleicht handelt es sich bei der Beethovens 9. Sinfonie um die berühmteste Komposition aller Zeiten. Da verwundert es vielleicht, dass das Werk von der zeitgenössischen Kritik sehr unterschiedlich rezensiert wurde. Carl Maria von Weber, ein Zeitgenosse Beethovens, war einer der Kritiker:

Hört das Rezept dieser neuen Symphonie, das ich soeben von Wien erhalten, schreibt er, und urteilt danach: Erstens, ein langsames Tempo, voll kurzer abgerissener Ideen, wo ja keine mit der anderen Zusammenhang haben darf. Alle Viertelstunden drei oder vier Noten! … Dann ein dumpfer Paukenwirbel und mysteriöse Bratschensätze, … endlich … ein wütendes Tempo, in welchen aber hauptsächlich dafür gesorgt sein muss, dass kein Hauptgedanke hervortritt.

Meine Lieblingsstelle der 9. Sinfonie
Nein, nicht der Schlusschor! Die grandiose Melodie ist zwar die Europa-Hymne geworden und steht für Werte, die mir wichtig sind. Aber musikalisch ist der Schlusschor eher nichts Besonderes. Meine Lieblingsstelle findet sich im Scherzo. Hier unterbricht die Pauke viermal abrupt die Spielfreude aller anderen Instrumente. Auch im Folgenden spielt sie eine zentrale Rolle. Am Ende des Satzes darf sie noch einige Male den Störenfried spielen.

Eine Aufnahme der Neunten Sinfonie Oslo Philharmonic in der in Oslo Concert Hall mit Oslo Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Klaus Mäkelä vom 4. Januar 2013

Friedrich Schillers Ode an die Freude entstand übrigens in Leipzig in einem wenig ansehnlichen Haus. Der Dichter, der in Laufe seines kurzen Lebens Weltliteratur schuf, war mit seinem Gedicht keineswegs zufrieden. Aber das wird Thema eines eigenen Blogbeitrags sein.

Literatur
Eleonore Büning, Sprechen wir über Beethoven. Ein Musikverführer, Salzburg und München 2018
Clemency Burton-Hill, Ein Jahr voller Wunder. Klassische Musik für jeden Tag, Zürich 2019
Michael Ladenberger (Hg), Beethoven zum Vergnügen. Ditzingen 2020

Die Ode an die Freude mit 10.000 Sängerinnen und Sängern. Nicht immer schön, aber ein wertvolles Symbol für Frieden und Verständigung

Blogbeiträge von Horst Heller
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