Horst Heller (Text: CC BY, Fotos CC0)
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Sonntag, der 24. Mai 1896. Clara Schumann wird in Bonn an der Seite ihres Ehemannes bestattet. Fünf Tage zuvor, am Mittwoch, dem 20. Mai, war sie 76-jährig in Frankfurt in Anwesenheit zweier ihrer Töchter und eines Enkelsohnes verstorben. Die Familie ist zur Beerdigung nach Bonn gereist. Auch Claras langjähriger Vertrauter Johannes Brahms ist in letzter Minute eingetroffen. Das Telegramm der Familie hat ihn erst spät an seinem Urlaubsort erreicht. Mit Klängen von Bachchorälen des Bonner Chorvereins wird der Sarg im Ehrengrab von Robert Schumann beigesetzt. Es ist erst wenige Jahre zuvor vom Stuttgarter Bildhauer Adolf von Donndorf aus Carrara-Marmor im Stil seiner Zeit gestaltet worden.
125 Jahre nach diesem Ereignis stehe ich selbst an dieser Stelle. Wer war die Frau, die an diesem Tag zu Grabe getragen wurde? Wer war sie, deren Karriere als Wunderkind begonnen hatte und die als Ehefrau und Witwe von Robert Schumann, als kritische Herausgeberin seiner Werke und als Mutter von acht Kindern zur international gefeierten Klaviervirtuosin geworden war?
Sie wollte die Beantwortung dieser Frage nicht der Nachwelt überlassen. Sie war ihr ganzes Leben bemüht, in Briefen und Tagebucheinträgen ein Bild von sich zu entwerfen. Sie schrieb an Menschen, von denen sie annehmen konnte, dass sie nach ihrem Tod über sie befragt würden und vernichtete Briefe, die Nachgeborene nicht lesen sollten.
Clara Schumann, geboren am 13. September 1819, fasziniert auch heute noch. Wenige Meter neben ihrem Grab habe ich an einer sonnigen Stelle Platz auf einer Bank genommen. Auf der Suche nach Veröffentlichungen stoße ich auf unzählige Biografien, Filme, Podcasts und Artikel. Manche empfinde ich trotz der vielen Jahre, die vergangen sind, als übergriffig. Es gibt Persönliches und Intimes, das im Verborgenen bleiben darf – zumal wir wissen, wie wichtig ihr genau das war. Auch wenn ich diesen voyeuristischen Blick unterlasse, bekommt mein Bild von ihr klare und scharfe Konturen.
Als Kind eines strengen und eigenwilligen Musikpädagogen, der seine Tochter zum klavierspielenden Kinderstar machte, wurde sie selbst zu einer ehrgeizigen Künstlerin, die öffentlichen Auftritte und die damit verbundene Bestätigung ihres Tuns wie die Luft zum Atmen brauchte. Die berufliche Selbstverwirklichung war der Fixstern ihres Leben. Um dieses Zentrum kreiste all ihr Streben. In den sechzehn Jahre ihrer Ehe mit dem bewunderten, geliebten, aber hochsensiblen und am Ende schwer kranken Ehemann Robert verstand sie sich als Teil einer Künstlergemeinschaft, in der der männliche Teil aber nach außen als die dominante Hälfte zu erscheinen hatte. Er ermutigte sie zu eigenen Kompositionen. Immerhin 23 Werke gab sie selbst heraus, andere wollte sie nicht veröffentlichen. Ihre Bestimmung sah sie aber nie im Komponieren, sondern im Konzertieren. Das verlor sie auch in ihrer Ehe nicht aus dem Blick. Nach Roberts Einlieferung in die Nervenheilanstalt in Bonn-Endenich begann sie, diesem Ziel planmäßig alles unterzuordnen. Die Familie durfte dem nicht länger im Wege stehen. Ihre loyalen Töchter hatten ihr dabei behilflich zu sein.
Internate, Gastfamilien und Pensionate für die Kinder ermöglichten ihr ausgedehnte Konzertreisen. Sie achtete dabei stets darauf, dass die auswärtige Unterbringung ihrer Kinder als der Akt einer treusorgenden Mutter angesehen wurde, die alles für ihre Kinder tat und alle erdenklichen Anstrengungen auf sich nahm, um die Kosten, die ihre Ausbildung verursachte, bezahlen zu können. Niemand sollte denken, dass sich hier eine große Künstlerin ihren (aus heutiger Sicht völlig legitimen) Wunsch nach Verwirklichung erfüllte.
Alle Kinder erhielten eine musikalische Ausbildung, aber nur ihrer Tochter Eugenie erlaubte sie ein Musikstudium. Sie war sich stets sicher, welcher Beruf für ihre Kinder geeignet war. Die Verwirklichung eigener Vorstellungen und Wünsche, wusste sie wirkungsvoll zu verhindern, wenn sie ihren Plänen widersprachen. Dabei gab sie sich nicht einmal die Mühe, dies subtil oder rücksichtsvoll zu tun. Ich stelle mir vor, wie verletzend es gewesen sein muss, von der bewunderten, erfolgreichen Mutter nur „durchschnittliche Eignung“ oder Begabung attestiert zu bekommen.
Die Härte gegenüber ihren eigenen Kindern und die Disziplin, die sie sich selbst abverlangte, waren nicht nur das Ergebnis ihrer eigenen Erziehung. Schicksalsschläge hatten einem kühlen Pragmatismus Raum gegeben. Im Jahr 1852 hatte sie eine Fehlgeburt erlitten. Emil, der erste Sohn nach drei Töchtern, war bereits im Kindesalter verstorben. Ihre Tochter Julie war mit 27 Jahren der Tuberkulose erlegen. Als ihr jüngster Sohn Felix, der erst nach dem Suizidversuch des Vaters geboren worden war, 24-jährig in ihrem Haus in Frankfurt gleichfalls tuberkulosekrank im Sterben lag, sagte sie das Konzert des Abends nicht ab. Die Pflicht, so glaubte sie, gestatte ihr keine Schwäche. Felix starb einen Tag später, während seine älteste Schwester bei ihm ausharrte. Ferdinand, Claras dritter Sohn, der nach einer kriegsbedingten Operation morphiumabhängig geworden war, starb 41-jährig und hinterließ eine Frau und vier Kinder. Clara sah sich für deren Erziehung verantwortlich und überging die Wünsche der Witwe ohne Bedenken. Drei ihrer vier Söhne starben also vor ihr. Am Tag ihrer Beerdigung lebte von ihren Söhnen nur noch Ludwig, der aber war seit seinem 22. Lebensjahr in einer geschlossenen Anstalt, wo ihn seine Mutter nie besuchte.

In Claras Frankfurter Haushalt lebte auch ihre älteste Tochter Marie. Als ledige Frau und Vertraute ihrer Mutter war sie ihre künstlerische Assistentin und Haushälterin. Sie begleitete sie auf Konzertreisen und erledigte Büro- und Korrespondenzarbeiten. Auch ihre zehn Jahre jüngere Schwester, die ebenfalls unverheiratete Eugenie, war zur Mutter gezogen und übernahm die Verwaltung der Finanzen des Haushaltes. Elise, nach dem Tod ihrer Schwester Julie die einzige verheiratete Tochter, lebte mit ihrer Familie ebenfalls in der Nähe von Frankfurt. Der Wunsch, ihre noch lebenden Töchter nahe bei sich zu haben, war ein wichtiger Grund, mit 59 Jahren die Anstellung am angesehenen Frankfurter Konservatorium anzunehmen.
Der gesamte Hausstand war nun zum Grab des Vaters gereist, um die Mutter dort beizusetzen. Es war selbstverständlich, dass Clara nicht in Frankfurt, wo sie seit 1882 ein großbürgerliches Stadthaus besaß, sondern an der Seite ihres Mannes in Bonn bestattet werden sollte. Sie hatte sich stets als treue Witwe des großen Schumann inszeniert und noch in den letzten Jahren seine gesammelten Kompositionen editiert. Sie empfand es als ihre Aufgabe, seinen Ruhm zu mehren und alles zu verhindern, was ihn trüben könnte. Dazu vernichtete sie sogar eines seiner Spätwerke, die 1853 entstanden Romanzen für Violoncello und Klavier. Anderes nahm sie nicht in die Gesamtausgabe auf. Zu groß war ihre Sorge, kritische Augen könnten darin Spuren seiner Erkrankung wahrnehmen.
Claras Witwenzeit währte vier Jahrzehnte. Am Ende ihres Lebens war sie eine vermögende Frau. Auch wenn sie sich und andere immer wieder an die eigenen finanziellen Verpflichtungen erinnerte und Kinder und Enkel zu strenger Sparsamkeit anhielt, war sie eine der bestbezahlten Künstlerinnen ihrer Zeit. Zu den üppigen Honoraren kamen Tantiemen aus der Aufführung von Werken ihres Mannes, ihr hohes Gehalt als Dozentin und immer wieder Schenkungen und Preise. Auch ihr unglaublicher Fleiß trug dazu bei. In einem sechzig Jahre währenden Künstlerleben hatte sie etwa 2000 Konzerte gegeben. Allein neunzehn Mal war sie nach England gereist, um dort jeweils mehrere Klavierabende zu spielen. Mit Vorliebe führte sie Beethovens Klavierkonzerte auf, aber auch Kompositionen Chopins und ihres Mannes – und natürlich die von Johannes Brahms, ihrem engen Freund.
Zeitgenössische Musik mochte die betagte Künstlerin ansonsten aber nicht. Wagner, Liszt und Berlioz‘ Kompositionen lehnte sie entschieden ab. Liszt achtete sie als Pianisten, seine Neigung, sich selbst zu inszenieren, war ihr aber zuwider, Wagner war ihr menschlich zutiefst unsympathisch. Seine Opern samt ihrer Libretti hielt sie für charakterlos. Im Frankfurter Konservatorium, dessen Aushängeschild die resolute Frau war, vertrat sie die traditionelle musikalische Formensprache, die an Beethoven anknüpfte, in deren Tradition Schubert und Mendelssohn sowie ihr Ehemann gestanden hatten und der – als Spätgeborener und in einer ganz eigenen Neuinterpretation – auch Brahms verpflichtet war. Er hatte ihr seine zweite Sinfonie zur Begutachtung vorgelegt. Sie machte Anmerkungen und lobte seine Werke überschwänglich. Dass er ihr seine dritte Sinfonie, die sie sehr an ihren Mann erinnerte, nicht vorab geschickt hatte, kränkte sie.
Erst fünf Jahre vor ihrem Tod hatte sie ihre Konzerttätigkeit aufgegeben. Rheumatische Schmerzen im rechten Arm, aber auch das nachlassende Gehör veranlassten sie, am 12. März 1891 ihr Abschiedskonzert in Frankfurt zu geben. Zusammen mit James Kwast, einem jüngeren Dozenten am Konservatorium, spielte sie die Haydn-Variationen von Brahms. Der Mut der einzigen Frau im Kollegium, sich 71-jährig noch einmal dem kritischen Urteil der anwesenden Dozenten auszusetzen, nötigt mir Respekt ab, denn sie war wegen ihrer Privilegien – sie durfte zu Hause unterrichten und hatte vier Monate Jahresurlaub – und ihrer entschiedenen Ablehnung der Neudeutschen Schule nicht unumstritten. Das fachkundige Publikum des Abends war mehr als überzeugt, die gesamte Komposition musste wiederholt werden.

Vor ihrem Grab auf dem Alten Friedhof in Bonn hat sich eine Frau mittleren Alters zu mir gesetzt. Sie ist eine Sängerin und verehrt Clara Schumann und Fanny Hensel, die ältere Schwester von Felix Mendelssohn. Im 19. Jahrhundert waren die Verwirklichung beruflicher Visionen einer Frau, ihre Anerkennung in der männlichen Fachwelt und kommerzieller Erfolg keine Selbstverständlichkeiten, sagt sie. Ich gebe ihr Recht. Und doch spüre ich einen Unterschied. Was Fanny Hensel, die ebenfalls eine begnadete Pianistin war, aber für ihr Leben gern ihre Kompositionen veröffentlicht hätte, nicht gestattet war, das gelang Clara. Als sie bestattet wurde, hatte sie ihre musikalischen Widersacher Hector Berlioz, Franz Liszt und Richard Wagner überlebt und ihr Leben selbstbestimmt gelebt. Der frühe Tod ihres Mannes und ein langes Leben als Witwe ermöglichten ihr die Verwirklichung ihres Traumes. Sie nannte das Konzertieren ihre Plicht. In Wahrheit konnte und wollte sie nicht ohne öffentliche Auftritte leben. Sie verließ das Konzertpodium erst, als ihr die Schmerzen keine Wahl mehr ließen.
Meine Gesprächspartnerin und ich verabschieden uns von Clara und Robert. Die ehrliche Liebe der beiden dient bis heute als Vorlage für romantische Erzählungen: Aber ich ahne, dass hier neben dem Ruhm der beiden auch lebenslange Anstrengungen, Missverständnisse, Erkrankungen, Sorgen und Enttäuschungen begraben liegen. In alledem haben Clara und Robert Schumann uns wunderbare Musik hinterlassen. Als ich zurück zum Rhein schlendere, erklingt in meinen EarPads Beethovens Klavierkonzert G-Dur, das Clara am liebsten spielte. Morgen werde ich einen Spaziergang zu seinem Geburtshaus machen.
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