„Ich will leben!“ Eine Erinnerung an die Dichterin Selma Meerbaum

Horst Heller
Dieser Beitrag als PDF

Selma Meerbaum wurde am 5. Februar 1924 in Czernowitz, damals ein Teil des Königreichs Rumänien, geboren. Ihre Familie gehörte der großen jüdischen Bevölkerungsgruppe an, in der man jiddisch und deutsch sprach. Ihr Vater führte einen kleinen Lebensmittelladen, starb aber wenige Monate nach Selmas Geburt. Über ihre Mutter war Selma mit Paul Celan verwandt, der vier Jahre älter und ihr Cousin zweiten Grades war. Im Hause von Selmas Großvater pflegte die Großfamilie den Sabbat zu begehen.

Czernowitz in der Bukowina liegt heute im Süden der Ukraine. Die Universitätsstadt hatte bis zum Ersten Weltkrieg zum Reich der Habsburger gehört. Hier wurde deutschsprachige Literatur gepflegt. Die Stadt zog Dichterinnen, Bildhauer, Malerinnen und Musiker an. Rose Ausländer ist neben Selma und Paul Celan eine weitere Protagonistin der Literaturgeschichte der Stadt. Auch sie wurde in Selmas Heimatstadt geboren, in der sich jüdische, ukrainische, polnische und rumänische Kulturen begegneten.

Selma besuchte eines der Gymnasien der Stadt und gehörte einem Literaturkreis an. Im Alter von 15 Jahren begann sie zu schreiben. Ihre Poesie trug sie mit Bleistift in ein Schreibheft ein. Voller Sehnsucht nach Leben, Glück und Liebe lässt sie nicht vermuten, dass die Autorin ein Teenager war. Ihre Gedichte gehören heute zur Weltliteratur. Alle Texte sind von einer melancholischen Grundstimmung durchzogen, die mit ihrer unglücklichen Liebe zu tun hat, vor allem aber ein Ausdruck ihrer Sorge und Angst sind. Der Antisemitismus und der Krieg kamen immer näher und bedrohten ihre Familie, ihren Freund Leiser Fichman, ihre Freundinnen – und sie selbst. „Ich will leben“, schrieb die 17-jährige.

Am 5. Juli 1941 kam der Nationalsozialismus in Gestalt rumänischer Truppen nach Czernowitz. Mit brutaler Gewalt bereiteten diese der Kultur der Vielfalt in der Stadt ein jähes Ende. Mit der deutschen Wehrmacht verbündet, begannen sie umgehend mit Verhaftungen und Erschießungen. Marion Tauschwitz, Selmas Biografin, berichtet, dass bereits in den ersten beiden Tagen 2.000 Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Unter dem Eindruck dieses Gräuels entstand am 7. Juli 1941 Selmas berühmtes Gedicht Poem. Seine Zeilen sprechen einen Ungenannten an – ist es der, den sie liebt? Sie zeigt ihm den Tau des frühen Morgens, den blauen Himmel des Tages und den Mond des Abends. Doch dann schreibt sie von Kanonen, vom Morden und von der Angst. „Sie kommen dann und würgen mich. Mich und dich. Tot.

Im Oktober 1941 wurden die Juden der Stadt in ein Ghetto gezwungen. Tausende starben dort an Krankheiten, Zehntausend wurden in Zwangsarbeitslager deportiert. Zwar wurde das Ghetto nach einigen Monaten wieder geöffnet und die Deportationen wurde ausgesetzt, aber nur, weil das Leben in der Stadt ohne seine jüdische Bevölkerung zusammenzubrechen drohte.

Einen Winter und einen Frühling lang konnten Selma, ihre Mutter und ihr Stiefvater noch in Czernowitz blieben, aber ihr Wunsch „Ich will leben!“ ging nicht in Erfüllung. Ende Juni 1942 wurde sie mit 500 Leidensgenossen in Viehwaggons weggebracht. Es ging mehrere hundert Kilometer östlich in die Stadt Ladyschyn am Bug. Mit Booten wurden sie über den Fluss gebracht. In einem Straflager, das von der SS befehligt wurde, hatten die Zwangsarbeiter unter unglaublichen Entbehrungen in einem Steinbruch zu arbeiten.

Als Selma am 28. Juni in Czernowitz zum Sammelpunkt gelaufen war, ahnte sie vielleicht, dass sie nicht mehr in ihre Heimatstadt zurückkehren würde. Sie hatte ihre Gedichtsammlung sorgfältig abgeschrieben, neu geordnet, ihr den Namen Blütenlese gegeben und sie Leiser Fichman gewidmet. Unterwegs übergab sie das Heft einem Bekannten, den sie am Straßenrand entdeckte. Sie bat ihn, es ihrer Freundin Else Schächter zu geben. Die wiederum sollte es an den Freund weiterreichen. Er nahm es an sich, gab es jedoch später an Else Schächter zurück, als er nach Bukarest reiste, um auf einem Schiff einen Platz für die Passage nach Palästina zu bekommen.

Im August 1944 bestieg Fichman in Constanta am Schwarzen Meer eines von drei unter neutraler türkischer Flagge fahrendes Flüchtlingsschiff, das Jüdinnen und Juden nach Palästina bringen sollte. Doch das Schiff wurde beschossen, noch bevor es den Bosporus passiert hatte, und sank. Die Besatzung überlebte, sie nutzte das einzige an Bord befindliche Rettungsboot. Fast alle Flüchtenden, auch Leiser Fichman, kamen ums Leben. Auf seiner Flucht wollte er Selmas Gedichte nicht mitnehmen. Nur deshalb sind sie erhalten geblieben.

Zu diesem Zeitpunkt lebte Selma schon nicht mehr. „Ich will leben“, hatte sie einst geschrieben. Sie dachte an Flucht, aber der frühe Wintereinbruch machte durch den Schneefall alle Hoffnungen zunichte. Als im Lager eine Typhus-Epidemie ausbracht, erkrankte auch sie. Sie verstarb, völlig entkräftet, am Abend des 16. Dezember 1942 im Lager Michailowka. Sie wurde nur 18 Jahre alt.

Das literarische Werk ihres kurzen Lebens, die Gedichtsammlung Blütenlese, kam nach einer Odyssee durch ganz Europa schließlich nach Israel. Dort lag es jahrelang in einem Banksafe, da im jüdischen Staat Veröffentlichungen in deutscher Sprache nicht möglich waren. Selmas ehemaliger Gymnasiallehrer, ein Holocaust-Überlebender, entdeckte das Manuskript im Jahr 1968 und veröffentlichte das Gedicht Poem in gekürzter Fassung in Ost-Berlin. Alle Gedichte wurden unter dem Titel Ich bin in Sehnsucht eingehüllt erst im Jahr 1980 veröffentlicht. Sie gehören zum reichen literarischen Erbe der ausgelöschten deutsch-jüdischen Kultur von Czernowitz und der Bukowina.

Czernowitz, die Stadt in der Rose Ausländer, Paul Celan und Selma Meerbaum geboren wurden, und Ladyschyn, wo Selmas kurzes Leben endete, gehörten heute zur Ukraine, einem Land, das ein weiteres Mal von einem verbrecherischen Krieg heimgesucht wird.

„Ich will leben!“

Literatur
Selma Meerbaum-Eisinger, Ich gehe mit der Nacht vereint. Gedichte, Reclam, 2021
Marion Tauschwitz, Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt, zuende zu schreiben. Biografie und Gedichte: Springe, 2014
Helmut Braun, Selma Meerbaum. Du, weißt du, wie ein Rabe schreit? Aachen, 2016

Blogbeiträge zum Thema auf www.horstheller.de
09.11.2019: Synagoge Ottweiler – Wie in weniger als hundert Jahren aus Humanität Barberei werden kann
05.04.2020: Warum wir Bonhoeffer nicht der neuen Rechten überlassen dürfen
04.04.2021: Vater und Sohn. Wie Erich Ohser der Diktatur listig die Stirn bot und den Kampf dennoch tragisch verlor
20.03.2022: Goethes Eiche in Buchenwald. Wie in Weimar Erhabenes und Abgründiges zusammen eine Geschichte erzählen
01.10.2022: „Einigkeit und Recht und Freiheit.“ Wie wertvoll diese Werte sind, zeigt uns gerade die europäische Gegenwart.
19.02.2023: „Von Politik verstehe ich nicht viel. Sophie Scholl zeigt, dass auch ein vermeintlich unpolitischer Mensch in der Lage ist, für das Recht einzutreten.
19.11.2023: Gaza, Antisemitismus und ein Lied ohne Worte. SIeben Gedanken für die Praxis von Schule und Religionsunterricht
19.05.2024: Unantastbar. Fünf Konkretionen und zehn Gebote zum ersten Satz des Grundgesetzes aus christlich-theologischer Sicht


Ein Gedanke zu “„Ich will leben!“ Eine Erinnerung an die Dichterin Selma Meerbaum

Hinterlasse einen Kommentar