Horst Heller (CC BY-SA 4.0)
Dieser Beitrag als PDF

Während meiner Ausbildung hörte ich von einem Kollegen Religionslehrer, der seiner Klasse angeblich aufgetragen hatte, eine eigene Todesanzeige zu gestalten. Das wurde öffentlich. Das Boulevardblatt mit den VIER großen Buchstaben vermutete einen Skandal und organisierte eine mediale Empörung. Nichts steigert die Auflage mehr als ein gebrochenes Tabu. Die Schule beendete den Unterricht, bevor die Reporter des Massenblattes angereist waren, und bewahrte so Schülerinnen und Schüler vor unüberlegten Kommentierungen.
Ich hüte mich vor einem Urteil. War die Hausaufgabe wirklich so, wie sie in der Öffentlichkeit dargestellt wurde? Das ist keineswegs erwiesen. Schon die Betrachtung eines historischen Grabsteins im Unterricht und die Deutung seiner Inschrift können zum Trigger werden, wie ich es selbst in meinem Berufsleben erlebt habe. Sie lösen bei Eltern Ängste aus, die sie auf ihre Kinder übertragen.
Der Religionsunterricht will nicht Angst machen, sondern zum guten Leben beitragen.
Der Tod gehört zum Leben. Doch wenn schon dieser Satz ein Tabu ist, dann hilft dagegen kein „Da musst du durch.“ Lernprozesse kommen so nicht in Gang. So habe ich nach einem Zugang gesucht, der die Furcht vor dem Sterben nicht leugnet, den Todespessimismus aber überwindet und keine Illusionen verbreitet. Wie kann der Religionsunterricht Antworten auf die Fragen suchen, die die Unausweichlichkeit des Todes stellen, aber das mit Freude und Humor tun?
Haben wir einen plausiblen Grund für Hoffnung? Eine Geschichte
Kann es sein, dass der Tod kein Übel ist? Wenn ja, hat diese Hoffnung mit dem christlichen Osterfest zu tun? Und ist sie weder widersinnig noch illusionär noch unvernünftig? Über den Tellerrand unserer kohlenstofflichen Existenz hinaus können wir nicht sehen. Aber ein Religionslehrer gibt nicht so schnell auf. Ich habe es mit der Nacherzählung der Geschichte eines unbekannten Autors versucht. Vielleicht geht sie auf Henri Nouven, einen holländischer Theologen und Autoren, zurück, vielleicht ist sie aber noch älter.
Das Gleichnis von „den Zwillingen im Mutterleib
Im Mutterleib wuchsen Zwillinge heran. „Ist es nicht wunderbar, dass wir leben?“, sagte der eine eines Tages zum anderen. „Wir sind gewachsen und haben uns verändert, seit wir hier sind.“
„Ja, das Leben ist schön, aber unser Aufenthalt hier wird bald zu Ende sein“, antwortete der andere und fragte: „Glaubst du eigentlich an ein Leben nach der Geburt?”
„Ja, daran glaube ich,“ antwortete der erste, „ich freue mich sogar darauf.“
„Wie soll ein Leben nach der Geburt denn aussehen?“, entgegnete der andere. „Ich glaube nicht daran.”
„Das weiß ich auch nicht. Vielleicht wird es heller als hier sein.“
„Das ist Unsinn!“, widersprach der zweite. „Es gibt eine Nabelschnur, die uns ernährt. Ich habe gehört, dass sie durchgeschnitten wird. Wie können wir ohne sie leben? Ich habe auch gehört, dass schon andere vor uns diesen Mutterleib verlassen haben. Aber noch keiner von ihnen ist zurückgekommen und hat uns gesagt, dass es ein Leben nach der Geburt gibt. Nein, die Geburt ist das Ende, da bin ich mir sicher.“
Eine Zeitlang waren beide still. Dann begann der zweite von neuem: „Vielleicht gibt es gar keine Mutter. Vielleicht haben wir sie uns nur ausgedacht. Hast du je unsere Mutter gesehen?“
„Sie muss doch existieren“, protestierte der erste. „Wie sind wir sonst hierhergekommen? Und meinst du nicht, dass sie an uns denkt und uns ernährt?“
Auf diese und andere Fragen fanden die Zwillinge keine Antwort.
Doch dann kam der Tag der Geburt…

Vier didaktische Hinweise und ein Motto für den Unterricht
1. Ein Gleichnis: Die Geschichte erzählt von der Geburt und meint den Tod.
Zur Erzählung gehören eine Bildebene und eine Sachebene. Sie erzählt von den Zweifeln der Ungeborenen und will zugleich die Geborenen zu einer vernünftigen Hoffnung anregen. Die Zwillinge fragen sich: Gibt es ein Leben nach der Geburt? Es ist noch nie jemand in den Mutterleib zurückgekehrt und hat ihnen von einem solchen Leben erzählt. Alles spricht dagegen, denn die Nabelschnur wird durchgeschnitten. Gibt es eine Mutter? Sie haben sie noch nie gesehen. Ludwig Feuerbach, der berühmte Religionskritiker warf dem Christentum im 19. Jahrhundert vor, das Göttliche sei allein eine Projektion menschlicher Sehnsüchte. Ist die Existenz einer Mutter auch reines Wunschdenken?
Das sind die Fragen der beiden Ungeborenen. Unsere Fragen sind aber nicht weniger existentiell. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Es ist noch doch noch kein Toter zurückgekehrt. Gibt es Gott? Kein Mensch hat ihn je gesehen. Ist es Gott, der allem Geschaffenen das Leben geschenkt hat und es erhält?
2. Humor und Klugheit: Ohne die Antworten auf unsere Fragen zu kennen, sind wir doch klüger als die Protagonisten des Gleichnisses.
Die Erzählung ist humorvoll und gibt schon Kindern das Gefühl, mehr zu wissen als die Zwillinge. Sie können die Geschichte ohne Probleme weiterschreiben. Über die Fragen der ungeborenen Kinder können sie herzhaft lachen und ihnen ihre Antwort geben. Ja, es gibt ein Leben nach der Geburt. Und ja, es gibt eine Mutter.
3. Ende und Anfang: Wir wissen nicht, was nach dem Tod kommt, aber wir dürfen hoffen.
Das Gleichnis lehrt uns ein Doppeltes. Unsere Bilder vom Jenseits sind spekulativ, das sollten wir bescheiden nicht vergessen. Aber wir können auch nicht ausschließen, dass der Tod die Pforte in eine neue spirituelle Existenz ist. Die Zwillinge jedenfalls finden sich unerwartet in einer Welt des Lichts, der Stimmen, der Musik und der Vielfalt der Farben wieder. Das hatten sie nicht erwartet. So könnte auch der Tod nicht das Ende sein, sondern der Übergang zu etwas Neuem, Größerem, Schönerem, Leichterem und Glücklicherem.
4. Osterfest und Leben: Die Rede von der Auferweckung Jesu ist ein Impuls, über Hoffnung nachzudenken.
Die Evangelien erzählen, dass der Auferstandene Frauen und Männern begegnet sei und ihre Trauer in Freude verwandelt habe. Sie hatten den Glauben und die Hoffnung bereits verloren. Das erste Osterfest wirft ein neues Licht auf den Tod. Der Endgültigkeit des Todes wird widersprochen. Ist es vernünftig zu hoffen, dass es auch für das Individuum ein Osterfest gibt? Die Antwort hängt davon ab, ob wir auch in unserem eigenen Leben schon einmal wunderbare Wendungen erlebt haben. Wir sind also aufgefordert, über unser Leben nachzudenken, um erste Antworten auf die Frage nach dem Tod zu finden.
Das reicht aber schon.
Wir dürfen hoffen. So gestärkt wenden wir uns gerne dem Leben vor dem Tod zu.
„Eines Tages werden wir alle sterben“, sagt Charly Brown. Und Snoopy antwortet ihm: „Ja, das stimmt, aber an allen anderen Tagen nicht.“



Blogbeiträge auf www.horstheller.de
14.06.2020: Allein auf einer einsamen Insel – Was würdest du mitnehmen? Nachdenken über das Glück
23.01.2022: „Wir wissen, dass der Mensch im Grunde gut ist.“ Wie Desmond Tutu die christliche Anthropologie vom Kopf auf die Füße stellte.
13.03.2022: Frieden lehren. Wenn wir wollen, dass künftige Politiker friedensfähige Menschen sind, müssen wir heute damit beginnen.
12.06.2022: Kugel, Quader und das Glück. Wenn das Runde auf dem Eckigen zur Ruhe gekommen ist.
03.07.2022: Glaubst du an eine Leben nach der Geburt? Eine Geschichte und vier Überlegungen zum Ende des kohlenstofflichen Lebens.
29.10.2022: Benedikt und andere Heilige. Eine evangelisch-religionspädagogische Überlegung
06.11.2022: Es regnet in der Karawanserei. Warum ich meiner Kirche und meiner Religion trotzdem treu bleibe
01.01.2023: Was glaubst du? Drei Theologen suchen nach neuen Worten. Ein Credo-Trialog
08.01.2023: „Das gibt’s doch nicht!“ Die Geschichte von Bartimäus als religionspädagogische Herausforderung